Vielversprechender Wirkstoff gegen tödlichen Hirntumor ist ein alter Bekannter



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20.09.2024 11:00

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

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Vielversprechender Wirkstoff gegen tödlichen Hirntumor ist ein alter Bekannter

Ein Antidepressivum gegen Hirntumor? Was überraschend klingt, könnte Realität werden. Denn ETH-Forschende zeigen mit einem von ihnen entwickelten Wirkstoff-Screening, dass ein solches Medikament Zellen des gefürchteten Glioblastoms tötet – zumindest in der Zellkulturschale.

Das Glioblastom ist ein besonders aggressiver Hirntumor, der bisher nicht heilbar ist. Krebsmediziner:innen können den Betroffenen durch Operation, Bestrahlung und Chemotherapie und operativen Eingriffen mehr Lebenszeit verschaffen. Trotzdem stirbt die Hälfte der Patient:innen innerhalb von zwölf Monaten nach der Diagnose.

Wirksame Medikamente gegen im Hirn wuchernde Tumore sind schwierig zu finden, da viele Krebsmedikamente oft nicht ins Hirn gelangen, weil sie die die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren. Das schränkt die Auswahl an möglichen Behandlungen ein. Neuro-Onkolog:innen suchen deshalb seit längerem intensiv nach besseren Medikamenten, die das Gehirn erreichen und den Tumor eliminieren.

Nun haben Forschende um ETH-Professor Berend Snijder einen Wirkstoff gefunden, der Glioblastome zumindest im Labor wirksam bekämpft. Dabei handelt es sich um das Antidepressivum Vortioxetin. Von ihm ist bekannt, dass es die Blut-Hirn-Schranke passieren kann, es ist beispielsweise durch Swissmedic zugelassen und kostengünstig.

Gefunden hat es Snijders Postdoktorandin Sohyon Lee mithilfe einer speziellen Screening-Plattform, die die Forschenden in den vergangenen Jahren an der ETH Zürich entwickelt haben. Diese Plattform nennen sie Pharmakoskopie. Die Ergebnisse ihrer Studie wurden soeben in der Fachzeitschrift Nature Medicine veröffentlicht. In dieser Studie arbeiteten die ETH-Forschenden eng mit Kolleg:innen von verschiedenen Spitälern zusammen, insbesondere mit der Gruppe der Neurologen Michael Weller und Tobias Weiss vom Universitätsspital Zürich (USZ).

Hunderte Substanzen gleichzeitig testen

Mit der Pharmaskopie können die ETH-Forschenden gleichzeitig hunderte von Wirkstoffen an lebenden Zellen aus menschlichem Krebsgewebe testen. In ihrer Studie konzentrierten sie sich vor allem auf neuroaktive Substanzen, die die Blut-Hirn-Schranke passieren, wie zum Beispiel Antidepressiva, Antiparkinsonmittel oder Antipsychotika. Insgesamt testeten sie 130 verschiedene Mittel an Tumorgewebe von 40 Patient:innen.

Durch Bildgebungsverfahren und Computeranalysen stellten die Forschenden fest, welche Substanzen auf die Krebszellen wirken. Bisher hatten Snijder und sein Team die Pharmakoskopie-Plattform nur für die Untersuchung von Blutkrebs genutzt und daraus Behandlungsmöglichkeiten abgeleitet. Das Glioblastom ist der erste solide Tumor, den sie mit dieser Methode systematisch untersucht haben, um bestehende Medikamente für neue Zwecke einzusetzen.

Für das Screening analysierte die Studienerstautorin Sohyon Lee frisches Krebsgewebe von Patient:innen, die kurz zuvor am Universitätsspital Zürich operiert wurden. Dieses Gewebe wurde dann von den ETH-Forschenden im Labor aufbereitet und auf der Pharmaskopie-Plattform gescreent. Zwei Tage später hatten die Forschenden das Ergebnis, welche Mittel gegen die Krebszellen wirkten und welche nicht.

Antidepressiva überraschend wirksam

Bei den Tests zeigte sich, dass einige – aber nicht alle – der getesteten Antidepressiva überraschend wirksam gegen die Tumorzellen waren. Diese Medikamente wirkten besonders gut gegen den Hirntumor, wenn sie rasch eine Signalkaskade auslösten, die für neuronale Vorläuferzellen wichtig ist, aber auch die Zellteilung unterdrückt. Vortioxetin erwies sich dabei als das wirksamste Antidepressivum.

Die ETH-Forschenden nutzten zudem ein Computermodell, um über eine Million Substanzen auf ihre Wirksamkeit gegen Glioblastome zu testen. Dabei stellten sie fest, dass die gemeinsame Signalkaskade von Neuronen und Krebszellen eine entscheidende Rolle spielt. Diese Signalkaskade erklärt, warum einige neuroaktive Medikamente wirken und andere nicht.

Schliesslich testeten USZ-Forschende Vortioxetin an Mäusen mit einem Glioblastom. Das Medikament zeigte auch in diesen Versuchen eine gute Wirksamkeit, besonders in Kombination mit der aktuellen Standard-Behandlung.

Nun bereitet die Gruppe aus ETH- und USZ-Forschenden zwei klinische Versuche vor. In einer der Studie werden Glioblastom-Patient:innen zusätzlich zur Standard-Behandlung (Operation, Chemotherapie und Bestrahlung) mit Vortioxetin behandelt. In einer zweiten Studie werden Patienten mit einer personalisierten Medikamentenauswahl behandelt, die die Forschenden mithilfe der Pharmaskopie-Plattform für jeden einzelnen Patienten ermitteln.

Medikament weit verbreitet und kostengünstig

«Der Vorteil von Vortioxetin ist, dass es sicher und sehr kostengünstig ist», sagt Michael Weller, Professor am Universitätsspital Zürich und Direktor der Klinik für Neurologie. Er ist Mitautor der in Nature Medicine veröffentlichten Studie. «Da das Medikament bereits zugelassen ist, muss es kein aufwendiges Zulassungsverfahren durchlaufen und könnte bald die Standardtherapie bei diesem tödlichen Hirntumor ergänzen.» Er hofft, dass es Onkolog:innen bald einsetzen können.

Allerdings warnt er Patient:innen und ihre Angehörigen davor, Vortioxetin selbst zu besorgen und ohne ärztliche Aufsicht einzunehmen. «Wir wissen noch nicht, ob das Medikament bei Menschen wirkt und welche Dosis erforderlich ist, um den Tumor zu bekämpfen. Deshalb sind klinische Studien notwendig. Eine Selbstmedikation wäre ein unkalkulierbares Risiko.»

Auch Berend Snijder warnt davor, das Antidepressivum überstürzt gegen Glioblastome einzusetzen: «Die Wirksamkeit ist erst an Zellkulturen und in Mäusen nachgewiesen.»

Dennoch findet er, dass das Resultat dieser Studie ideal sei. «Wir gingen von diesem schrecklichen Tumor aus, haben bestehende Medikamente gefunden, die dagegenwirken. Wir zeigen auf, wie und warum sie wirken, und nun können wir dies bald an Patienten testen.» Erweise sich Vortioxetin als wirksam, habe man erstmals in den letzten Jahrzehnten einen Wirkstoff gefunden, der die Behandlung des Glioblastoms verbessert.


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Berend Snijder, Institute of Molecular Systems Biology, ETH Zürich, mail: snijder(at)imsb.biol.ethz.ch


Originalpublikation:

Lee S, Weiss T, Bühler M, et al. High-throughput identification of repurposable neuroactive drugs with potent anti-glioblastoma activity. Nature Medicine (2024), doi: 10.1038/s41591-024-03224-y


Bilder

Glioblastom-Zellen unter dem Mikroskop.

Glioblastom-Zellen unter dem Mikroskop.
Sohyon Lee & Berend Snijder
ETH Zürich


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch


 

Quelle: IDW