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28.04.2023 10:01
Die Alarm-Theorie des Bewusstseins
Menschen haben Bewusstsein – aber handelt es sich dabei nur um ein Nebenprodukt der Evolution oder erfüllt es eine Grundfunktion? Zu dieser Frage haben Prof. Dr. Albert Newen von der Ruhr-Universität Bochum und Prof. Dr. Carlos Montemayor von der San Francisco State University eine neue Theorie entwickelt. Im Journal of Consciousness Studies vom 1. Januar 2023 unterscheiden sie zwei Stufen von Bewusstsein, die auch zwei verschiedene Funktionen haben.
Die erste Stufe des Bewusstseins ist das basale Empfinden, die zweite die allgemeine Alltagswachheit. „Mit diesen beiden Stufen sind zwei aufeinander aufbauende Grundfunktionen verbunden“, erklärt Albert Newen vom Bochumer Institut für Philosophie II, warum er Bewusstsein nicht für ein zufälliges Beiprodukt der Evolution hält. Laut der Alarm-Theorie ist das basale Empfinden evolutionär zuerst entstanden, um den Körper in einen Alarmzustand versetzen zu können, damit das Leben des Organismus erhalten bleibt. Das geschieht etwa, wenn Kernfunktionen des Lebens wie Atmung, Nahrungszufuhr oder Temperaturregelung plötzlich aus dem Gleichgewicht geraten und das Überleben gefährdet ist.
Basales Empfinden versetzt Organismus in Alarm
„Wenn wir in die heiße Sommersonne gehen, fangen wir automatisch an zu schwitzen. Das sind zunächst langsame automatische Anpassungen; sie reichen meist, um die Körpertemperatur stabil zu halten. Sie laufen unbewusst ab“, beschreibt Carlos Montemayor ein Beispiel. „Wenn wir aber plötzlich in eine sehr heiße Umgebung kommen, genügen diese langsamen Anpassungen nicht mehr. Der Organismus droht geschädigt zu werden, zum Beispiel weil die Haut verbrennt. Typischerweise reagiert der Körper mit einem Schmerzsignal, das uns in einen Alarmzustand versetzt, sodass wir sofort etwas dagegen tun.“ Bei starkem plötzlichem Schmerz werden Reflexe in Gang gesetzt, zu denen auch ein Vermeidungs- und Fluchtreflex gehört. Basales Empfinden hat also die Grundfunktion, einen biologischen Organismus in einen Alarmzustand zu versetzen, damit er alle langsamen Anpassungsmechanismen wie das Schwitzen stoppt und zunächst einmal eine rasche Vermeidungs- und Fluchtreaktion startet, die das Leben bewahrt. Das basale Empfinden von Schmerz dauert an und stellt sicher, dass man sich auch über die akute Reflexreaktion hinaus um den Körper kümmert.
Alltagswachheit ermöglicht neue Verhaltensweisen
Darauf aufbauend haben Menschen und auch viele Tiere laut Newen und Montemayor zusätzlich eine allgemeine Alltagswachheit entwickelt. Sie ermöglicht viele Formen des Lernens, die mit gezielter Aufmerksamkeit einhergehen. Im Fall eines Alarmzustands des Körpers können die Lebewesen mithilfe von Alltagswachheit nicht nur wenige Reflexe, sondern auch neue Handlungen in Gang setzen. „So hilft sie uns beispielsweise zu lernen, dass eine Bedrohung durch Feuer nicht nur durch Flucht, sondern manchmal auch durch den Einsatz eines Feuerlöschers beseitigt werden kann“, skizziert Newen.
Hinweise auf diese Theorie sehen Newen und Montemayor vor allem in zwei Tierstudien von experimentell arbeitenden Gruppen. In einer Studie aus dem Jahr 2020 unter Leitung von Yuri Saalmann, Universität Winsconsin, wurden Makaken anästhesiert – wie Menschen, die operiert werden. In diesem Zustand der Bewusstlosigkeit aktivierten die Forschenden gezielt einen bestimmten Bereich im Gehirn, den zentralen lateralen Thalamus. Sobald diese Stimulation stattfand, wachten die Makaken auf. Wurde die Stimulation beendet, fielen sie in die Bewusstlosigkeit zurück. „Die Stimulation wirkte wie ein Schalter zum Aktivieren von Bewusstsein“, erklärt Carlos Montemayor. Aber es handelte sich nur um ein basales Empfinden, denn die Makaken konnten zwar Schmerzen spüren, Dinge sehen und darauf reagieren, aber sie waren nicht in der Lage – wie bei normalem Wachsein – Lernaufgaben mitzumachen.
Entscheidende Rolle für den Thalamus
Ein zweites Experiment unter Leitung von Michael Halassa am Massachusetts Institute of Technology belegt zusätzlich, dass Mäuse allgemeine Alltagswachheit besitzen. Die Tiere lernten, auf einen Ton anders zu reagieren als auf ein Lichtsignal. Außerdem konnten sie ein drittes Signal deuten, dass ihnen anzeigte, ob sie sich auf den Ton oder auf das Lichtsignal konzentrieren sollten. „Die Mäuse konnten das rasch lernen, sodass klar ist, dass sie ein Lernen mit gezielter bewusster Aufmerksamkeit beherrschen und somit über generelle Alltagswachheit verfügen“, folgert Albert Newen. Dabei waren andere Bereiche des Thalamus entscheidend beteiligt, nämlich die Aktivierung eines Kerngebiets, des Nucleus reticularis. Die Alarm-Theorie des Bewusstseins ergänzt bedeutende rivalisierende Theorien des Bewusstseins – die sogenannte Theorie des globalen Arbeitsraumes im Gehirn und die Informations-Integrationstheorie –, die dem Thalamus nur eine unwesentliche Rolle zubilligen.
Neben dem basalen Empfinden und der allgemeinen Alltagswachheit verfügen Menschen noch über reflexives Bewusstsein, welches darin besteht, dass sie über sich selbst, über ihre Vergangenheit und Zukunft nachdenken können. „Inwieweit manche Tiere Grundformen des reflexiven Bewusstseins haben, ist noch offen“, so Newen. „Diese Form des Bewusstseins wird in künftigen Arbeiten diskutiert.“
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. Albert Newen
Institut für Philosophie II
Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaften
Ruhr-Universität Bochum
Tel.: +49 234 32 22139
E-Mail: albert.newen@rub.de
Originalpublikation:
Albert Newen, Carlos Montemayor: Titel, in: Journal of Consciousness Studies, 2023, DOI: 10.53765/20512201.30.3.084, https://www.ingentaconnect.com/content/imp/jcs/2023/00000030/f0020003/art00004;j…
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