Teilen:
16.04.2024 12:43
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Im Behandlungszimmer: Kommunikation auf Augenhöhe?
Dass Ärzt:in und Patient:in gemeinsam die therapeutischen oder diagnostischen Maßnahmen beschließen, gilt als Goldstandard der medizinischen Kommunikation. Praktisch umgesetzt wird diese so genannte partizipative Entscheidungsfindung (SDM) nur teilweise. Eine internationale Studie unter Leitung der Universität Duisburg-Essen hat Arzt-Patient-Interaktionen an vier Universitätskliniken analysiert. Die Ergebnisse wurden soeben im Fachmagazin Teaching and Learning in Medicine veröffentlicht. Sie bestätigen eine Umsetzungslücke von SDM.
Die paternalistische Beziehung, in der Ärzt:innen zum Wohle von Betroffenen entscheiden, soll einem partnerschaftlichen Vorgehen weichen. Weltweit wird das in der medizinischen Ausbildung gelehrt. Aus Studien ist jedoch bekannt, dass dieser gemeinsame Entscheidungsprozess (shared decision-making – SDM) im Versorgungsalltag oft zu kurz kommt. Wie verlaufen solche Gespräche? Das hat ein interdisziplinäres Team aus Soziologie, Medizin, Linguistik und Medizinpädagogik für unterschiedliche Sprach- und Wissenschaftsräume untersucht: in China, der Türkei, Deutschland und den Niederlanden.
Das Team unter Leitung von Soziologieprofessorin Dr. Anja Weiß (Universität Duisburg-Essen) analysierte 71 Videobeobachtungen, mit denen der Erstkontakt eines Arztes bzw. einer Ärztin mit einem bzw. einer Schauspielpatient:in aufgezeichnet wurde. Diese:r klagt über Symptome von Herzschwäche. Eine Patientenakte liegt vor, es werden u.a. Beschwerden, Diagnose und Maßnahmen besprochen, wobei sich die Betroffenen ganz unterschiedlich einbringen.
„Unseren Beobachtungen nach ist die gemeinsame Entscheidungsfindung im klinischen Alltag länderübergreifend nicht lehrbuchgemäß“, sagt Prof. Anja Weiß. „Dennoch waren viele Aspekte und Variationen des SDM-Ideals in den von uns beobachteten Interaktionen offensichtlich: Die Ärzt:innen reagierten aktiv auf ihr Gegenüber, sie interessierten sich für die Perspektive ihrer Patient:innen, stellten Fragen, schlugen Erklärungen für deren Ängste vor. Oft geschah das allerdings auf routinierte Weise.“
Kulturelle Unterschiede in der Kommunikation konnte das Forschungsteam überraschenderweise nicht feststellen. Was die Gespräche auch zeigten: Die Interaktionen sind dynamisch, lassen sich nicht immer vorhersagen oder von den Behandelnden steuern. Und: Selbst zurückhaltende Patient:innen können eine aktive Rolle spielen, so dass es zu einer gemeinsamen Entscheidung kommt. „Das Lehrbuch-Modell von SDM ist in einigen Punkten vielleicht zu starr und sollte überdacht werden“, so Weiß. „Wir empfehlen, diesbezüglich in der medizinischen Ausbildung mehr Improvisationen und Variationen zuzulassen.“
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. Anja Weiß, Tel. 0176-96879051, anja.weiss@uni-due.de
Originalpublikation:
Sommer, I., Assa, S., Bachmann, C., Chen (陈未), W., Elcin, M., Funk, E., … Weiss (Weiß), A. (2024). Medical Care as Flea Market Bargaining? An International Interdisciplinary Study of Varieties of Shared Decision Making in Physician–Patient Interactions. Teaching and Learning in Medicine, 1–13. https://doi.org/10.1080/10401334.2024.2322456
Weitere Informationen:
https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/10401334.2024.2322456
Bilder
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Gesellschaft, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch