Kollektive Intelligenz kann helfen, medizinische Fehldiagnosen zu reduzieren



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24.10.2023 09:51

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

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Kollektive Intelligenz kann helfen, medizinische Fehldiagnosen zu reduzieren

Forschende des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, des Institute for Cognitive Sciences and Technologies (ISTC) und der Norwegian University of Science and Technology haben einen auf kollektiver Intelligenz basierenden Ansatz entwickelt, um die Genauigkeit medizinischer Diagnosen zu erhöhen. Ihre Arbeit wurde kürzlich in der Zeitschrift PNAS vorgestellt.

In den USA sterben jedes Jahr schätzungsweise 250.000 Menschen an vermeidbaren medizinischen Fehlern. Viele dieser Fehler entstehen während des Diagnoseprozesses. Ein wirksamer Ansatz zur Erhöhung der Diagnosegenauigkeit besteht darin, die Diagnosen mehrerer Diagnostiker zu einer gemeinsamen Lösung zu kombinieren. In der allgemeinen medizinischen Diagnostik fehlt es jedoch an Methoden, um unabhängige Diagnosen zusammenzufassen. Forschende des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, des Institute for Cognitive Sciences and Technologies (ISTC) und der Norwegian University of Science and Technology stellen eine vollautomatisierte Lösung vor, die Methoden des Knowledge Engineering nutzt.

Sie testeten ihre Lösung an 1.333 medizinischen Fällen, die vom The Human Diagnosis Project (Human Dx) zur Verfügung gestellt wurden, wobei jeder Fall von zehn Diagnostikern unabhängig begutachtet wurde. Die kollektive Lösung erhöhte die Diagnosegenauigkeit erheblich: Einzelne Diagnostiker erreichten eine durchschnittliche Genauigkeit von 46 Prozent. Die Zusammenführung der Entscheidungen von zehn Diagnostikern erhöhte diese auf durchschnittlich 76 Prozent. Die Verbesserungen traten über alle medizinischen Fachgebiete, Hauptbeschwerden und Erfahrungsstufen der Diagnostiker hinweg auf. „Unsere Ergebnisse zeigen das lebensrettende Potenzial von kollektiver Intelligenz”, sagt Erstautor Ralf Kurvers. Er ist Senior Researcher am Forschungsbereich Adaptive Rationalität des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und beschäftigt sich in seiner Forschung mit sozialer und kollektiver Entscheidungsfindung bei Mensch und Tier.

Es ist erwiesen, dass kollektive Intelligenz die Entscheidungsgenauigkeit in vielen Bereichen erhöht, zum Beispiel bei geopolitischen Prognosen, Investitionen und Diagnosen in der Radiologie oder Dermatologie (vgl. Kurvers et al., PNAS, 2016). Allerdings wurde die kollektive Intelligenz bisher meist auf relativ einfache Entscheidungsaufgaben angewandt. Anwendungen für komplexere Aufgaben, wie Notfallmanagement oder allgemeine medizinische Diagnostik, fehlen weitgehend, da es schwierig ist, nicht standardisierte Eingaben von verschiedenen Personen zu integrieren. Um diese Hürde zu überwinden, haben die Forschenden in ihrer Anwendung semantische Wissensgraphen, natürliche Sprachverarbeitung und die medizinische Ontologie SNOMED CT – eine umfassende, mehrsprachige klinische Terminologie – zur Standardisierung eingesetzt.

„Ein wesentlicher Beitrag unserer Arbeit besteht darin, dass die von Menschen erstellten Diagnosen zwar ihre Vorrangstellung behalten, unsere Aggregations- und Bewertungsverfahren jedoch vollständig automatisiert sind, wodurch mögliche Verzerrungen bei der Erstellung der endgültigen Lösung vermieden werden und eine höhere Zeit- und Kosteneffizienz möglich ist“, fügt Mitautor Vito Trianni vom Institute for Cognitive Sciences and Technologies (ISTC) in Rom hinzu.

Die Forschenden arbeiten derzeit – zusammen mit anderen Partner*innen – im Rahmen des HACID-Projekts daran, ihre Anwendung dem Markt einen Schritt näher zu bringen. Im Rahmen des von der EU finanzierten Projekts wird ein neuer Ansatz erforscht, der menschliche Expert*innen und KI-gestützte Wissensrepräsentation und automatisierte Schlussfolgerungen zusammenbringt, um neue Werkzeuge für die Entscheidungsfindung in verschiedenen Bereichen zu schaffen. Die Anwendung der HACID-Technologie auf die medizinische Diagnostik stellt eine der vielen Möglichkeiten dar, wie von einem digitalisierten Gesundheitssystem und zugänglichen Daten profitiert werden kann.


Originalpublikation:

Kurvers, R. H. J. M., Nuzzolese, A. G., Russo, A., Barabucci, G., Herzog, S. M., & Trianni, V. (2023). Automating hybrid collective intelligence in open-ended medical diagnostics. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 120(34), Article e2221473120. https://doi.org/10.1073/pnas.2221473120

Kurvers, R. H. J. M., Herzog, S. M., Hertwig, R., Krause, J., Carney, P. A., Bogart, A., Argenziano, G., Zalaudek, I., & Wolf, M. (2016). Boosting medical diagnostics by pooling independent judgments. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 113(31), 8777–8782. https://doi.org/10.1073/pnas.1601827113


Weitere Informationen:

https://www.mpib-berlin.mpg.de/pressemeldungen/kollektive-intelligenz-in-der-med… Pressemitteilung auf der MPIB-Webseite
https://www.humandx.org The Human Diagnosis Project
http://www.hacid-project.eu/ HACID Project


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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch


 

Quelle: IDW