28.10.2020 16:00
Mehr Paracetamol-Vergiftungen
Seit 2003 ist das Schmerzmittel Paracetamol in der Schweiz in Tabletten mit einer höheren Wirkstoffdosis erhältlich. Gleichzeitig haben hierzulande Paracetamol-Vergiftungsfälle zugenommen, konnten ETH-Forschende in einer Datenauswertung zeigen.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Das bekannte Schmerzmittel Paracetamol ist in der Schweiz nicht nur rezeptfrei in Tabletten zu 500 Milligramm erhältlich, sondern nach Verschreibung durch einen Arzt oder eine Ärztin auch in doppelt so hoch dosierten Tabletten zu 1000 Milligramm (1 Gramm). Forschende der ETH Zürich haben nun untersucht, ob die Verfügbarkeit der höher dosierten Tabletten mit häufigeren Paracetamol-Vergiftungen im Zusammenhang stehen könnte. Sie schliessen aus ihrer Untersuchung, dass dem so ist.
Paracetamol ist das weltweit am häufigsten verwendete Schmerzmittel. «Es ist ein sehr sicheres Medikament, allerdings nur für die kurzzeitige Schmerzbekämpfung und solange die Tagesdosis die empfohlene Bandbreite nicht überschreitet», sagt Andrea Burden, Professorin für Pharmakoepidemiologie an der ETH Zürich. Die empfohlene Maximaldosis für Erwachsene liegt bei täglich 4000 Milligramm (4 Gramm), also bei maximal vier der hoch dosierten oder bei maximal acht der weniger hoch dosierten Tabletten. Bei Überdosierungen kann Paracetamol zu schweren Vergiftungen mit Leberversagen und der Notwendigkeit einer Lebertransplantation oder sogar mit tödlichem Ausgang führen.
Rücksprache mit Fachperson ist wichtig
«Ein Problem von Paracetamol ist, dass es nicht bei allen Patientinnen und Patienten und gegen alle Formen von Schmerz wirkt», sagt Burden. «Ist das Medikament bei einer Person wirkungslos, könnte sie in Versuchung geraten, die Dosis ohne Absprache mit einer Fachperson zu erhöhen.» Dies sei das eigentliche Problem. Und hier kommt auch die Tablettengrösse ins Spiel: Mit den 1000-Milligramm-Tabletten kann die Tageshöchstdosis bereits mit wenigen zusätzlichen Tabletten überschritten werden, während das Risiko einer irrtümlichen Überdosierung mit den weniger hoch dosierten 500- Milligramm-Tabletten geringer sei, sagt Burden.
«Wir sind uns bewusst, dass Schmerzbehandlungen herausfordernd sind und auch andere Medikamente schwerwiegende Nebenwirkungen haben können», sagt die ETH-Professorin. «Wirkt Paracetamol nicht wie erwünscht, sollten allerdings nicht einfach weitere Tabletten eingenommen werden. Stattdessen wäre es wichtig, das Gespräch mit einer Fachperson zu suchen, um die beste Therapiemöglichkeit zu finden.»
Viel mehr höher dosierte Tabletten verkauft
Die 1000-Milligramm-Paracetamol-Tabletten sind in der Schweiz seit Oktober 2003 erhältlich, vorher waren die 500-Milligramm-Tabletten die grössten. Gemeinsam mit ihrem Team hat Burden Verkaufszahlen des Apothekerverbands Pharmasuisse sowie Daten des toxikologischen Informationszentrums Tox Info Suisse zu Anrufen in Zusammenhang mit Paracetamol-Vergiftungen in der Zeit vor und nach dieser Markteinführung analysiert.
Wie die Verkaufszahlen zeigen, hat die Popularität der 1000-Milligramm-Tabletten seit ihrer Einführung rasch zugenommen. Im Jahr 2005 wurden erstmals mehr 1000-Milligramm-Tabletten verkauft als 500-Milligramm-Tabletten. Heute werden gar zehnmal mehr der höher dosierten Tabletten verkauft.
Im selben Zeitraum nahmen auch die an Tox Info Suisse gemeldeten Paracetamol-Vergiftungsfälle zu. Nach 2005 kam es innerhalb von drei Jahren zu einem deutlichen Anstieg der Vergiftungsfälle um 40 Prozent, von 561 Fällen im Jahr 2005 auf 786 im Jahr 2008. «Wir können daher davon ausgehen, dass die vermehrten Vergiftungen mit der Verfügbarkeit der 1000-Milligramm-Tabletten zusammenhängen», sagt Stefan Weiler, Mitautor der Studie und wissenschaftlicher Leiter von Tox Info Suisse. In den Jahren nach 2008 nahmen die Vergiftungsfälle nochmals zu, auf 1188 im Jahr 2018.
Vergiftungen könnten vermieden werden
Die ETH-Professorin Burden plädiert für eine kritische Haltung, was Verschreibung und Abgabe der 1000-Milligramm-Tabletten angeht. «Zumindest sollten die 1000-Milligramm-Tabletten nur noch in Packungen angeboten werden, die weniger Tabletten enthalten», sagt sie. Da es immer mehr Hinweise darauf gebe, dass Paracetamol zur Behandlung chronischer Schmerzen ungeeignet sei, bestehe wenig Bedarf an Packungsgrössen von 40 oder 100 Tabletten. Ausserdem sollten Ärzte ihrer Ansicht nach eher die 500-Milligramm-Tabletten verschreiben, um das Risiko einer versehentlichen Überschreitung des Tageslimits zu reduzieren. Durch die Einnahme von zwei solchen Tabletten könnte eine Dosis von 1000 Milligramm ebenfalls erreicht werden.
Burden ist der Ansicht, dass mit einer geringeren Verfügbarkeit von 1000-Milligramm-Tabletten einige der Vergiftungsfälle vermieden werden könnten. In der Zwischenzeit erachtet es Burden als wichtig, dass Apothekerinnen und Apotheker bei der Abgabe der hoch dosierten Tabletten Patienten auf die Gefahr einer Überschreitung der täglichen Maximaldosis aufmerksam machen.
Originalpublikation:
Martinez-De la Torre A, Weiler S, Bräm DS, Allemann SS, Kupferschmidt H, Burden AM: National poison center calls before vs. after availability of high dose acetaminophen (paracetamol) tablets in Switzerland: an interrupted time series analysis. JAMA Network Open, 28. Oktober 2020, doi: 10.1001/jamanetworkopen.2020.22897 [https://doi.org/10.1001/jamanetworkopen.2020.22897]
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Medizin
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