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05.09.2023 10:48
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Long-COVID: Besserung ist erreichbar, aber nicht bei allen Betroffenen
In einer Langzeitauswertung des Post-COVID-Zentrums am Universitätsklinikums Jena zeigten über 90% der mehr als 1000 betrachteten Patienten vielfache Langzeitsymptome nach einer COVID-19-Erkrankung. Weit über die Hälfte berichtete von Erschöpfung und Konzentrationsschwäche, die über die Zeit leicht abnahmen. Auch nach über einem Jahr leidet etwa ein Fünftel der Betroffenen an ME/CFS, einer durch Infektionen ausgelösten schweren neuroimmunologischen Erschöpfungserkrankung. Das Autorenteam betont, dass spezifische interdisziplinäre Therapiekonzepte und deren Evaluierung dringend notwendig sind.
Etwa fünf bis zehn Prozent der Menschen, die sich mit Sars-CoV2 infiziert hatten, leiden auch nach Monaten und sogar Jahren noch an Langzeitfolgen. Als eine der ersten Kliniken bundesweit richtete das Universitätsklinikum Jena (UKJ) eine spezielle Ambulanz für diese Patientinnen und Patienten ein. Mit Förderung des Freistaates Thüringen ist daraus ein interdisziplinäres die Post-COVID-Zentrum entstanden. „Mittlerweile haben sich knapp 3000 Erwachsene zu einer umfassenden Eingangsdiagnostik vorgestellt“, so PD Dr. Philipp Reuken, Oberarzt in der Klinik für Innere Medizin IV des UKJ. „Mit vielen vereinbaren wir in Abhängigkeit der Beschwerden und Vorbefunde Folgetermine, im Schnitt nach einem halben Jahr.“
Das Jenaer Post-COVID-Zentrum stellte jetzt eine Langzeitauswertung vor, in die die Daten von 1022 Patientinnen und Patienten aufgenommen werden konnten. Bei knapp der Hälfte davon wurde auch die Entwicklung bis zum Folgetermin betrachtet. Fast alle Betroffenen in der Studie beklagten mehrere Langzeitsymptome als Folge der Sars-CoV-2-Infektion. Am häufigsten gaben die Betroffenen neuropsychologische Symptome an: 80 Prozent litten an Fatigue, einer schweren Erschöpfung, zwei Drittel berichteten von Konzentrationsschwäche und über die Hälfte von Gedächtnisstörungen. Bei den körperlichen Symptomen überwogen Kopf- und Muskelschmerzen, Schlafstörungen, Kurzatmigkeit, Riech- und Schmeckstörungen.
Ein Fünftel der Long-COVID-Betroffenen leidet auch nach über einem Jahr an ME/CFS
Beim Folgetermin bekundeten viele Patientinnen und Patienten eine leichte Verbesserung, die bei Fatigue und der Konzentrationsfähigkeit am deutlichsten war. Die objektiven Screeningergebnisse für Fatigue, Depressionsanzeichen und Gedächtnisvermögen ergaben bei der zweiten Visite jedoch kaum Verbesserungen im Vergleich zum ersten Besuch. Aber 30 Prozent der Betroffenen erfüllten die vollständigen Kriterien für ME/CFS. Das Kürzel steht für das Krankheitsbild einer schweren neuroimmunologischen Erschöpfungserkrankung, die durch Virusinfektionen ausgelöst werden kann, und deren Krankheitsmechanismen kaum verstanden sind. Auch bei der zweiten Visite litt noch jeder fünfte unter ME/CFS, dabei lag die Infektion bereits deutlich über ein Jahr zurück.
Typisch für ME/CFS ist, dass sich der Zustand der Betroffenen nach Anstrengung deutlich verschlechtert. „Deshalb ist es für diese Patienten besonders wichtig, ihre physischen und mentalen Kräfte konsequent einzuteilen. Das als Pacing bezeichnete Konzept spielt eine zentrale Rolle bei der Therapie“, betont Philipp Reuken. „Long-COVID ist eine langwierige Erkrankung, eine Verbesserung ist erreichbar, aber nur langsam.“
Ein großes Problem ist, dass ein relevanter Anteil der Patienten nicht mehr arbeiten gehen kann bzw. in der Versorgungsarbeit in der Familie deutlich eingeschränkt ist. Das macht die soziale Dimension der Erkrankung deutlich. „Wir benötigen spezifische interdisziplinäre Therapiekonzepte und müssen diese in Studien evaluieren, um den Patientinnen und Patienten eine zielgerichtete, aber eben auch wirksame Behandlung anbieten zu können“, sagt Prof. Dr. Andreas Stallmach, der Leiter des Post-COVID-Zentrums am UKJ. Er ist einer der Tagungspräsidenten des 2. Long-COVID-Kongresses in Jena, der sich im November neben neuen Forschungsergebnissen zur Erkrankung vor allem mit der Teilhabe der Betroffenen am sozialen und Arbeitsleben beschäftigt.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
PD Dr. Philipp Reuken, Prof. Dr. Andreas Stallmach
Klinik für Innere Medizin IV, Post-COVID-Zentrum, Universitätsklinikum Jena
Tel.: +49 3641 9234504
E-Mail: Philipp.Reuken@med.uni-jena.de, Andreas.Stallmach@med.uni-jena.de
Originalpublikation:
Reuken, P.A., Besteher, B., Finke, K. et al. Longterm course of neuropsychological symptoms and ME/CFS after SARS-CoV-2-infection: a prospective registry study. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci (2023). https://doi.org/10.1007/s00406-023-01661-3
Weitere Informationen:
https://www.uniklinikum-jena.de/Post_COVID_Zentrum.html Interdisziplinäres Post-COVID-Zentrum am UKJ
https://long-covid-kongress.de 2. Long COVID-Kongress am 24.-25. November in Jena
Bilder
Untersuchung im Post-COVID-Zentrum des Universitätsklinikums Jena.
Universitätsklinikum Jena
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, jedermann
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch