Ranghohe Nacktmulle sind widerstandsfähiger



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06.04.2022 13:22

Ranghohe Nacktmulle sind widerstandsfähiger

Nacktmulle sind immer wieder für eine Überraschung gut. Die MDC-Arbeitsgruppe von Gary Lewin hat jetzt herausgefunden, dass Tiere mit einem höheren Rang den sozial schwächeren wahrscheinlich auch in immunologischer Hinsicht überlegen sind. Seine Ergebnisse beschreibt das Team in „Open Biology“.

Sie sehen nicht nur ungewöhnlich aus, sie haben auch einen ungewöhnlichen Lebensstil: Ihr gesamtes Leben verbringen Nacktmulle unter der Erde. Sie kennen kaum Schmerz, erkranken nur äußerst selten an Krebs und werden für Nagetiere extrem alt – bis zu 37 Jahre. All das macht die nackten Tunnelbewohner zu besonders interessanten Tieren für die Wissenschaft.
Seit beinahe 20 Jahren erforscht Professor Gary Lewin am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) diese außergewöhnlichen Tiere. „Die Nacktmulle leben in straff organisierten Kolonien. Jedes Tier kennt seinen Rang und die damit verbundenen Aufgaben“, sagt Lewin. Gerade ist seiner Arbeitsgruppe „Molekulare Biologie der sensomotorischen Wahrnehmung“ gemeinsam mit Wissenschaftler*innen des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), der Freien Universität Berlin und der Universität von Pretoria eine neue Entdeckung gelungen: Im Fachjournal „Open Biology“ schreiben die Forscher*innen, dass Nacktmulle mit höherem sozialen Rang eine größere Milz haben. Das Organ spielt eine wichtige Rolle im Immunsystem: Es ist an der Bildung, Reifung und Speicherung von Immunzellen beteiligt. „Das könnte bedeuten, dass ranghöhere Tiere eine bessere körpereigene Abwehr haben als Tiere, die unter ihnen stehen“, sagt Erstautorin Dr. Valérie Bégay aus Lewins Team.
Vergrößerte Milz ohne jegliche Krankheitszeichen
Weil die schrumpligen Würstchen auf vier Beinen so besonders sind, untersucht Dr. Valérie Bégay jeden einzelnen Nacktmull, der in einem Versuch zum Einsatz kommt. Dabei fiel ihr auf, dass bei einigen Tieren die Milz größer ist als bei anderen. Das machte sie stutzig. „Wir dachten zunächst, dass die Tiere mit der größeren Milz krank sind“, erzählt die Forscherin. Denn wenn der Körper gegen eine Entzündung oder Krankheit kämpft, vergrößert sich das Organ, weil dort viele Immunzellen gebildet und gespeichert werden. „Doch wir konnten nichts finden: weder Entzündungsmarker im Blut noch andere Hinweise auf eine Erkrankung. Hinter der vergrößerten Milz musste etwas anderes stecken.“
Dass die Größe der Milz vom Status des Tieres abhängt, fand Valérie Bégay mit Unterstützung von Dr. Alison Barker heraus. Die Wissenschaftlerin, die zuletzt die Dialekte der Mulle erforscht hat, kennt sich mit Experimenten für die Verhaltensforschung bestens aus. Um ihre Rangordnung zu bestimmen, lässt man zwei Nacktmulle in einer Röhre aufeinander zu laufen. „Das Tier mit dem höheren Rang wird dabei immer über das rangniedrigere Tier hinwegsteigen“, sagt Alison Barker, „es behält sozusagen die Oberhand.“
Ranghöhere Tiere kommen besser mit Krankheiten zurecht
So erkannten die Forscher*innen, dass es die höhergestellten Tiere sind, deren Milz vergrößert ist. Dann untersuchte Valérie Bégay die Organe auch auf molekularer Ebene. Mittels RNA-Sequenzierung und der Analyse von Gewebeproben klassifizierte sie die verschiedenen Immunzellen in der Milz. Dabei zeigte sich, dass in den vergrößerten Organen die Zahl der Makrophagen erhöht ist. Makrophagen sind so etwas wie die Abwehrsoldaten des Körpers. Sie beseitigen Krankheitserreger, indem sie sie umschließen und verdauen. Deshalb werden sie auch Fresszellen genannt. „Die vergrößerte Milz könnte die ranghöheren Tiere also in die Lage versetzen, Infektionen besser zu bekämpfen und mit Entzündungen oder Verletzungen leichter fertig zu werden“, erklärt Valérie Bégay.
Das stärkere Immunsystem bei höherstehenden Tieren ist kein Alleinstellungsmerkmal der Nacktmulle. Auch bei Makaken sind die Ranghöheren besser gegen Krankheiten gefeit. Allerdings ist bei den Affen nicht die Milz vergrößert, sondern das Immunsystem anders organisiert. „Dass es solche großen Unterschiede bei der Größe der Milz geben kann, ohne dass eine Krankheit vorliegt, hat uns wirklich überrascht“, sagt Gary Lewin. „Der Rang eines Nacktmulls hängt davon ab, wie er sich in der Gruppe verhält. Die Größe der Milz hängt wiederum mit dem Rang zusammen. Das würde letztlich bedeuten, dass das Verhalten direkt die physischen Eigenschaften des Immunsystems beeinflusst. Oder umgekehrt.“
Die Königin kennt keine Menopause
Die Forscher*innen vermuten außerdem, dass die Milz auch die Langlebigkeit der Tiere beeinflusst. Erfolgreiche Nacktmulle, also diejenigen, die sich am besten gegen die anderen durchsetzen, leben länger. Die Königin stirbt in der Regel nicht an ihrem Alter, sondern fällt meist einem Mord zum Opfer – nämlich dann, wenn ein anderes Weibchen männliche Anhänger um sich schart und die alte Königin aus dem Weg räumen lässt. „Bis zu ihrem letzten Tag ist die Königin fruchtbar“, sagt Gary Lewin. „Sie kennt keine Menopause – als würde ihr Organismus nicht altern.“ Das deutet zumindest darauf hin, dass ein starkes Immunsystem den Alterungsprozess verlangsamt. Für gewöhnlich bringen Säugetiere nicht bis an ihr Lebensende Nachkommen hervor, auf die fruchtbare folgt eine reproduktionsfreie Phase.
Den Wissenschaftler*innen stellen sich nun weitere Fragen. Etwa: Was ist zuerst da – die größere Milz oder der höhere Rang? Das ist bislang nicht geklärt. Klar ist nur, dass Nacktmulle nicht in ihren sozialen Status hineingeboren werden, sondern sich hocharbeiten. Ihre Triebfeder könnte das Verlangen nach Sex sein: Nur die Ranghöchsten – die Königin und zwei bis drei Paschas – dürfen sich vermehren. „Es könnte sich um einen Selektionsmechanismus handeln“, überlegt Gary Lewin. „Indem sich nur die Erfolgreichsten paaren, ist gewährleistet, dass die Tiere mit dem stärksten Immunsystem ihre Gene weitergeben.“
Auch für die Krebsforschung erhofft sich Gary Lewin neue Einblicke. Nacktmulle verfügen offenbar über ein sehr effizientes Krebsabwehrsystem. Ob die Milz daran beteiligt ist, müssen weitere Zellanalysen erst zeigen. „Da sind wir noch ganz am Anfang“, betont der MDC-Wissenschaftler.
Text: Jana Ehrhardt-Joswig


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Professor Gary Lewin
Leiter der Arbeitsgruppe „Molekulare Physiologie der somatosensorischen Wahrnehmung“
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC)
glewin@mdc-berlin.de

Jana Ehrhardt-Joswig
Redakteurin, Abteilung Kommunikation
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC)
+49-30-9406-2118
Jana.ehrhardt-joswig@mdc-berin.de oder presse@mds-berlin.de


Weitere Informationen:

http://Webseite der Arbeitsgruppe von Gary Lewin
http://MDC-Pressemitteilung: Nacktmulle sprechen Dialekt


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Chemie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch


Quelle: IDW