Wichtige Messmethode der Neutrinophysik auf dem Prüfstand



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16.08.2021 10:06

Wichtige Messmethode der Neutrinophysik auf dem Prüfstand

Mit präzisen Massenmessungen und hochgenauen Rechnungen gelang es jetzt einem vom MPI für Kernphysik geleiteten Team, die Genauigkeit einer wichtigen Methode der Neutrinophysik, der kryogenen Mikrokalorimetrie, unabhängig zu überprüfen. Denn um die Eigenschaften von Neutrinos – jenen extrem leichten Geisterteilchen, die Materie nahezu ungehindert durchdringen – zu bestimmen, sind genaueste Messungen erforderlich.

Wie schwer sind Neutrinos? Nach dem Standardmodell der Elementarteilchenphysik sind sie masselos, aber seit der Entdeckung der Neutrino-Oszillationen (Nobelpreis 2015) ist klar, dass sie eine – wenn auch winzige – Masse haben müssen. Diese periodische Umwandlung eines Neutrinos in eine andere der drei Sorten löst das einst rätselhafte vermeintliche Sonnenneutrino-Defizit auf. Bis heute sind nur obere Grenzen der Neutrinomasse bekannt, die bestätigen, dass sie äußerst klein ist. Dies macht eine direkte Massenmessung zu einer herausfordernden Aufgabe.

Ein vielversprechender Ansatz ist die präzise Vermessung des radioaktiven Beta-Zerfalls, wenn in einem Atomkern ein Neutron in ein Proton, ein Elektron und ein Neutrino zerfällt, oder umgekehrt des Elektroneinfangs durch ein Proton, das sich dabei in ein Neutron umwandelt, wobei ebenfalls ein Neutrino freigesetzt wird. Zwar kann man die emittierten Neutrinos hier nicht direkt nachweisen, allerdings sämtliche restliche beim Zerfall freigesetzte Energie. Ein Vergleich mit der maximal zur Verfügung stehenden Energie des Zerfalls ergibt die Neutrinomasse. Dazu muss man beide Werte mit hoher Genauigkeit aus dem Energiespektrum und dessen extrapolierter Maximalenergie bestimmen. Daran arbeitet z.B. das KArlsruhe TRItium Neutrino Experiment KATRIN in Karlsruhe.

Andererseits steht die maximal zur Verfügung stehende Energie nach Einsteins berühmter Formel E = mc² mit der Massendifferenz zwischen Mutter- und Tochteratom in Verbindung. Um diese sehr präzise – und unabhängig vom Zerfallsprozess – zu messen, ist Massenspektrometrie in Penningfallen eine hervorragende Methode.

Präzise Massenmessungen und hochgenaue Rechnungen liefern Zerfallsenergie

Das in der Natur häufigste Rhenium-Isotop ist das mit der Massenzahl 187; es zerfällt mit sehr langer Halbwertzeit zum stabilen Osmium-187, und die Massen- bzw. Energiedifferenz ist mit wenigen Kiloelektronenvolt (keV) außerordentlich gering. Eine direkte, hochpräzise Bestimmung der winzigen Massendifferenz zwischen beiden Atomen in Form der 29-fach positiv geladenen Ionen gelang nun Mitgliedern der Abteilung von Klaus Blaum am MPI für Kernphysik mit ihrer „Pentatrap“-Apparatur. Um die gesuchte Massendifferenz zwischen den neutralen Atomen zu erhalten, hat die Gruppe um Zoltan Harman in der Abteilung von Christoph Keitel am MPIK die Bindungsenergie der fehlenden 29 Elektronen genauestens berechnet. Das ist die Energie, die man aufwenden muss, um diese Elektronen aus dem neutralen Atom zu entfernen.

Pentatrap ist eine Anordnung von fünf zylindrischen Penningfallen, die sich in einem starken supraleitenden Magneten befindet. „Wir haben den Fallenturm zuerst mit einem Rhenium-Ion, dann einem Osmium-Ion und wieder einem Rhenium-Ion beladen, so dass die drei Ionen in benachbarten Einzelfallen gefangen waren“, erklärt Sergey Eliseev, der die Messungen geleitet hat, die Vorgehensweise. „Dann haben wir die Bewegung, genauer die Umlauffrequenzen, von einem Rhenium- und dem Osmium-Ion in ihren Fallen gleichzeitig vermessen und anschließend alle Ionen um eine Falle verschoben, sodass die Einzelfallen jetzt mit dem jeweils anderen Ion gefüllt waren. Danach haben wir die Messung in denselben Fallen fortgesetzt und die Prozedur vielfach wiederholt.“ Dies und weitere Maßnahmen haben Störeinflüsse und damit die systematischen Unsicherheiten stark reduziert. Aus dem so bestimmten Verhältnis der Umlauffrequenzen ergibt sich die Massendifferenz zwischen den beiden 29-fach geladenen Ionen – und zwar mit einer Genauigkeit von etwa einem Elektronenvolt (eV). Das ist die bisher präziseste Massenverhältnis-Bestimmung überhaupt.

„Die Bindungsenergie der äußeren 29 Elektronen in Rhenium und Osmium haben wir mit drei verschiedenen relativistischen quantentheoretischen Methoden sehr aufwändig berechnet“, berichtet Theorie-Erstautor Chunhai Lyu. „Diese Rechnungen, die die gegenseitige Wechselwirkung der vielen Elektronen präzise berücksichtigen müssen, liefen mehrere Wochen lang auf hunderten von Prozessoren auf unserem Computercluster. Erfreulicherweise ist das Ergebnis für die Differenz der Bindungsenergien bei allen drei Methoden sehr ähnlich und insgesamt auf 1 eV genau.“

Damit hat das Team die Massendifferenz für den Betazerfall von Rhenium-187 zu Osmium-187 berechnet, sie beträgt 2470,9 ± 1,3 eV und stimmt damit sehr gut mit den Werten überein, die bei früheren Messungen mittels kryogener Mikrokalorimetrie erhalten wurden. „Das bedeutet“, fasst Sergey Eliseev zusammen, „dass das zugrunde liegende theoretische Modell des Betazerfalls gültig und Mikrokalorimetrie eine zuverlässige und mindestens im Bereich einiger Elektronenvolt genaue Methode in der Neutrinoforschung ist. Allerdings könnten Festkörpereffekte in Rhenium-Kristallen die mit Mikrokalorimetrie bestimmte Zerfallsenergie um einige eV verändern. Um diese Effekte zu erforschen, sind weitere Messungen mit Ungenauigkeiten von weniger als 1 eV erforderlich.“


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. Sergey Eliseev
Tel.: +49 6221 516-670
E-Mail: sergey.eliseev@mpi-hd.mpg.de

PD Dr. Zoltán Harman
Tel.: +49 6221 516-170
E-Mail: zoltan.harman@mpi-hd.mpg.de


Originalpublikation:

Direct Q-value determination of the β–-decay of 187Re, P. Filianin, C. Lyu, M. Door, K. Blaum, W.J. Huang, M. Haverkort, P. Indelicato, C.H. Keitel, K. Kromer, Y.N. Novikov, A. Rischka, R.X. Schüssler, Ch. Schweiger, S. Sturm, S. Ulmer, Z. Harman, and S. Eliseev, Phys. Rev. Lett. 127, 072502 (2021), DOI: 10.1103/PhysRevLett.127.072502


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Studierende, Wissenschaftler
Physik / Astronomie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch


Quelle: IDW