Neu entdeckter Gendefekt verursacht neurodegenerative Erkrankung mit breitem Symptomspektrum

Neu entdeckter Gendefekt verursacht neurodegenerative Erkrankung mit breitem Symptomspektrum



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24.07.2020 09:30

Neu entdeckter Gendefekt verursacht neurodegenerative Erkrankung mit breitem Symptomspektrum

Unter der Leitung von Wissenschaftlern aus Jena, Tübingen und München konnte ein internationales Forscherteam Veränderungen im HPDL-Gen als Ursache für eine fortschreitende spastische Bewegungsstörung identifizieren. Bei 17 von der seltenen Krankheit Betroffenen reichten die Beeinträchtigungen von Auffälligkeiten des Gehirns von Geburt an, bis zu Bewegungsstörungen der Beine, die erst im Jugendalter einsetzten. In ihrer jetzt im American Journal of Human Genetics erschienenen Arbeit zeigen die Autoren, dass der Mangel an HDPL-Protein den Stoffwechsel der Mitochondrien beeinträchtigt.

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

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Als Spastik werden Bewegungsstörungen und Lähmungen bezeichnet, die von einer krankhaft erhöhten Muskelspannung aufgrund einer Schädigung des Nervensystems verursacht werden. Sie können, in verschieden schwerer Ausprägung, das Hauptmerkmal für neurologische Erkrankungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter sein, die teilweise auf angeborene Stoffwechselstörungen zurückzuführen sind. Trotz der diagnostischen Möglichkeiten, die die vollständige Sequenzierung des gesamten Genoms eröffnet, sind die molekularen Mechanismen vieler seltener Erkrankungen noch nicht aufgeklärt. Deren Kenntnis ist jedoch notwendig für eine fundierte Entscheidungsfindung und Beratung der Betroffenen und ihrer Familien, vor allem aber für die Suche nach neuen therapeutischen Ansätzen.

Einem internationalen Wissenschaftlerteam ist es jetzt gelungen, die genetische Ursache für eine solche spastische Bewegungsstörung aufzuklären. „Uns waren bei Kindern zweier Familien ähnliche, ungewöhnliche neurologische Beschwerden aufgefallen, die letztlich mit einer Lähmung der Beine einhergingen. Erst eine genetische Untersuchung ergab Hinweise auf eine mögliche gemeinsame Krankheitsursache“, so Dr. Ralf Husain, Kinderneurologe am Zentrum für Seltene Erkrankungen des Universitätsklinikums Jena.

Bei der Suche kam der diagnostischen Exomsequenzierung, bei der sämtliche Protein-kodierende DNA-Sequenzen des menschlichen Genoms untersucht werden, eine besondere Bedeutung zu. „Diese Sequenzierung erlaubt nicht nur eine umfassende und effiziente Bewertung bekannter Krankheitsgene in der Routinediagnostik, sondern bei solchen ungelösten Fällen auch die Identifizierung weiterer möglicherweise krankheitsauslösender DNA-Varianten“, erläutert der Humangenetiker Dr. Tobias Haack vom Zentrum für Seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Tübingen. Bei allen Patienten zeigte sich dabei eine Veränderung am HPDL-Gen, das bislang nicht als krankheitsverursachend beschrieben war.

Die Wissenschaftler suchten dann nach weiteren Fällen mit ähnlichem Krankheitsbild und noch ungeklärter Ursache. Aufwändig glichen sie dafür klinische Daten und vorhandene genomische Datensätze ab. Im Rahmen einer internationalen Kooperation konnten sie schließlich 17 Betroffene aus 13 Familien weltweit identifizieren, die genau diese genetische Störung aufwiesen. Ralf Husain führte die verfügbaren klinischen Daten zusammen: „Erstaunlich war das breite Spektrum der neurologischen Symptome. Diese reichen von schweren Beeinträchtigungen der Gehirnentwicklung von Geburt an – mit Ähnlichkeiten zu mitochondrialen Erkrankungen, bis hin zu Bewegungsstörungen der Beine, die erst im Jugendalter einsetzten – im Sinne einer Hereditären Spastischen Paraplegie (HSP). Patienten mit diesem Gen-Defekt werden demzufolge je nach Alter sowohl von Kinderneurologen, als auch Neurologen behandelt.“

Über die Funktion des HPDL-Proteins und die Mechanismen der Krankheitsentstehung ist derzeit noch wenig bekannt. Wissenschaftler des Instituts für Humangenetik am Jenaer Uniklinikum konnten in Experimenten nachweisen, dass das vom HDPL-Gen kodierte Protein in Patienten-Zelllinien deutlich verringert war. Mithilfe bioinformatischer Vorhersagen und zellbiologische Experimente konnte zudem gezeigt werden, dass das Protein am Stoffwechsel der Mitochondrien beteiligt ist, den Zellorganen für die Energiegewinnung. Den genauen Stoffwechselweg und die Reaktionspartner des Proteins wollen die Wissenschaftler in weiteren Experimenten erkunden. Aus der Kenntnis von anderen genetisch bedingten mitochondrialen Erkrankungen schöpfen sie die Hoffnung, dass sich dann möglicherweise Ansätze für eine zielgerichtete medikamentöse oder diätetische Therapie aufzeigen.


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. med. Ralf Husain
Klinik für Neuropädiatrie, Universitätsklinikum Jena
Tel.: 03641 9329651
Ralf.Husain@med.uni-jena.de

Dr. med. Tobias Haack
Institut für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik & Zentrum für Seltene Erkrankungen
Universitätsklinikum Tübingen
Tel.: 07071 2977692
tobias.haack@med.uni-tuebingen.de


Originalpublikation:

Husain RA et al. Bi-allelic HPDL Variants Cause a Neurodegenerative Disease Ranging From Neonatal Encephalopathy to Adolescent-Onset Spastic Paraplegia. Am J Hum Genet. (2020), DOI: https://doi.org/10.1016/j.ajhg.2020.06.015


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch


Quelle: IDW