27.10.2021 09:24
Veränderung der Hirnaktivität bei Rolando-Epilepsie lässt sich durch gezielte Laute im Schlaf beeinflussen
Forschungsteam der Universität und des Universitätsklinikums Tübingen entwickelt Ansatz zur Reduktion epileptischer Aktivität bei Kindern
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Eine bei Kindern häufige Form der Epilepsie ist die Rolando-Epilepsie, bei der die Anfälle vornehm-lich im Schlaf auftreten. Durch im Schlaf vorgespielte kurze Laute können die für die Epilepsie cha-rakteristischen, in der Hirnaktivität messbaren Ausschläge teilweise unterdrückt werden. Das hat ein Forschungsteam der Universität und des Universitätsklinikums Tübingen unter der Leitung von Dr. Hong-Viet Ngo und Professor Jan Born vom Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie festgestellt. Diese Erkenntnisse könnten die Grundlage für künftige Forschungen an Therapien für diese Epilepsieform bilden. Zwar nimmt die Rolando-Epilepsie in der Regel einen milden Verlauf und bleibt oft unbehandelt. Doch ließen sich zum Teil mit der Erkrankung in Verbindung gebrachte Auffälligkeiten in der kognitiven Entwicklung durch eine solche Therapie möglicherweise beeinflussen. Die neue Studie wurde in der Fachzeitschrift Cell Reports Medicine veröffentlicht.
Die Rolando-Epilepsie tritt bei Kindern meist zwischen dem fünften und achten Lebensjahr erstmals auf und verschwindet um den Beginn der Pubertät. „Die Anfälle bei dieser Form der Epilepsie sind meist kurz, es kann zu Zuckungen im Bereich des Gesichtes und vorübergehenden Sprechstörungen im Rahmen der Anfälle kommen“, erklärt die an der Studie beteiligte Ärztin Dr. med. Susanne Ruf von der Kinderklinik. Auch treten die Anfälle oft nur in sehr großen zeitlichen Abständen auf. Daher entscheiden sich viele Eltern und Kinder gegen die Einnahme von Tabletten. „Problematisch ist jedoch, dass die Epilepsie die normale Hirnaktivität im Schlaf in einer wichtigen Entwicklungspha-se der Kinder stören kann.“ Lern- und Sprachschwierigkeiten, Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen würden mit der Rolando-Epilepsie in Verbindung gebracht.
Unterschiede in der Hirnaktivität
In der Studie zeichnete das Forschungsteam die elektrische Hirnaktivität von sieben an Rolando-Epilepsie erkrankten Kindern sowie sieben jeweils altersgleichen gesunden Kontrollpersonen während des Schlafs nichtinvasiv in Elektroenzephalogrammen (EEG) auf. „Wir können mit unserer Ar-beit frühere Erkenntnisse bestätigen, dass es bei den kleinen Patienten im Schlaf Unterschiede in der Hirnaktivität gegenüber gesunden Kindern gibt“, sagt Dr. Jens Klinzing aus Borns Arbeitsgruppe, der Erstautor der Studie. „Dies betrifft insbesondere die sogenannten Schlafspindeln, ein Aktivitäts-muster, das wichtig für die Verarbeitung von Gedächtnis im Schlaf ist.“ Im Schlaf und in ruhigen Wachphasen wurden außerdem die zu erwartenden epileptischen Entladungen gemessen, die als Ausschlag der Kurve im EEG aufgezeichnet werden. „Man nimmt an, dass von der Rate und Stärke dieser Entladungen, die wir als Spikes bezeichnen, abhängt, wie stark ausgeprägt die Beeinträchtigung der Entwicklung der Kinder ist.“
Dass der wahrscheinliche Ursprungsort der Spikes die Verbindungen zwischen dem Zwischenhirn und der Großhirnrinde sind, brachte die Forscher auf die Idee, Experimente mit Lauten im Schlaf durchzuführen. „Diese Verbindungen sind sowohl an der Entstehung von Spikes als auch von Schlafspindeln beteiligt“, sagt Klinzing. „Aus früheren Untersuchungen war bekannt, dass sich Schlafspindeln durch Laute stimulieren lassen.“ Die Forscher vermuteten daher, dass sich so auch die epileptischen Entladungen beeinflussen lassen könnten. Tatsächlich stellte sich heraus, dass die leise abgespielten Laute bei den an Rolando-Epilepsie erkrankten Kindern sowohl die Spikefrequenz verminderten als auch die Intensität der darauffolgenden Spikes.
Förderung der plastischen Prozesse im Gehirn
„In Folge der Laute traten die gewünschten Schlafspindeln im EEG auf“, sagt Dr. Ngo. Diese sind ein Indikator dafür, dass plastische Prozesse im Gehirn ablaufen, die zur Festigung von Gedächtnisinhalten führen. Dies seien Funktionen, die bei der Rolando-Epilepsie beeinträchtigt sein können. „Wir hoffen, einen Ansatz gefunden zu haben, um die mit der Erkrankung verbundenen ungünstigen epileptischen Entladungen ein wenig zu unterdrücken“, sagt der Wissenschaftler. Nun müsse eine größere Studie mit mehr Patienten und längeren Behandlungszeiten die Befunde erhärten. Zu den offenen Fragen gehört, ob die Unterdrückung der Spikes zu kognitiven Verbesserungen bei den betroffenen Kindern führt.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Dr. Jens Klinzing
Universität Tübingen
Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie
Centrum für Integrative Neurowissenschaften
Telefon +49 7071 29-88923
jens.klinzing[at]uni-tuebingen.de
Originalpublikation:
Jens G. Klinzing, Lilian Tashiro, Susanne Ruf, Markus Wolff, Jan Born, Hong-Viet V. Ngo: Auditory stimulation during sleep suppresses spike activity in benign epilepsy with centrotemporal spikes. Cell Reports Medicine, https://doi.org/10.1016/j.xcrm.2021.100432
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Medizin, Psychologie
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
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