23.04.2021 17:58
VR-Visualisierung unterstützt Erforschung molekularer Netzwerke
Eine neue VR-Plattform ermöglicht die Darstellung riesiger Datenmengen. Dies kann unter anderem bei der Untersuchung seltener Gendefekte hilfreich sein.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Netzwerke bieten eine leistungsstarke Darstellung- und Analysemöglichkeit komplexer Systeme. Je nach Größe und Komplexität des Netzwerks stoßen aber viele Visualisierungen an ihre Grenzen. Ein derartig komplexes, kaum darstellbares System bilden die Protein-Interaktionen im menschlichen Körper. Jörg Menche, Adjunct Principal Investigator am CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Professor an der Universität Wien sowie Forschungsgruppenleiter der Max Perutz Labs (Uni Wien/MedUni), entwickelte mit seinem Team eine immersive Virtual Reality (VR)-Plattform, die dieses Problem löst. Mithilfe der VR-Visualisierung von Proteininteraktionen sollen zukünftig Zusammenhänge besser erkannt und jene genetischen Abweichungen identifiziert werden können, die für seltene Krankheiten verantwortlich sind
Je größer und komplexer Netzwerke sind, desto schwieriger wird auch ihre Visualisierung auf dem Bildschirm. Herkömmliche Computerprogramme stoßen dabei schnell an ihre Grenzen. Dieser Herausforderung widmeten sich Netzwerkwissenschaftler Jörg Menche und seine Forschungsgruppe am CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie entwickelten eine VR-Plattform, die es ermöglicht, riesige Datenmengen und deren komplexes Zusammenspiel auf eine einzigartige, intuitive Weise zu untersuchen.
Der Körper als Netzwerk
Besonders wichtig kann die Darstellung komplexer Daten bei der Suche nach der Ursache seltener Erkrankungen sein, denn der menschliche Körper stellt mit seinen rund 20.000 Proteinen, die im menschlichen Genom codiert sind und miteinander interagieren, ein riesiges komplexes Netzwerk dar. Egal ob Bewegung oder Verdauung – auf molekularer Ebene basieren sämtliche biologischen Prozesse auf der Interaktion zwischen Proteinen. Stellt man die Protein-Interaktionen in einem Netzwerk dar, entsteht ein kaum darstellbares Bild aus rund 18.000 Punkten – Proteinen – und rund 300.000 Strichen zwischen diesen Punkten. Um dieses Bild „lesbar“ zu machen, nutzten Menche und seine Forschungsgruppe die von ihnen entwickelte Virtual Reality (VR)-Plattform und schafften es in Zusammenarbeit mit der St. Anna Kinderkrebsforschung erstmals, die Gesamtheit der Proteininteraktion sichtbar zu machen. Dies ermöglicht es, das riesige und komplexe Netzwerk interaktiv zu erkunden.
Annäherung an die Ursache seltener Immunerkrankungen
Für ihre Studie, die in Nature Communications publiziert wurde, identifizierten Studienautor Sebastian Pirch und Menches Forschungsgruppe Verbindungsmuster zwischen verschiedenen Proteinkomplexen im menschlichen Körper und brachten diese mit ihrer biologischen Funktion in Verbindung. Zudem identifizierten die WissenschaftlerInnen mithilfe globaler Datenbanken spezifische Proteinkomplexe, die mit einer bestimmten Krankheit assoziiert werden. „Während herkömmliche Darstellungsformen wie ein einziger Heuhaufen aussehen würden, ermöglicht die 3-dimensionale Darstellung die genaue Analyse und Beobachtung der verschiedenen Proteinkomplexe und ihrer Interaktionen“, so Studienautor Pirch. Dies kann insbesondere bei der Identifikation seltener Gendefekte wichtig und entscheidend für therapeutische Maßnahmen sein. „Unsere Studie stellt einerseits einen wichtigen ‚Proof of concept‘ unserer VR-Plattform dar, andererseits zeigt sie unmittelbar das enorme Potenzial der Visualisierung molekularer Netzwerke“, so Projektleiter Menche. „Gerade bei seltenen Erkrankungen, schweren Immunerkrankungen, können Proteinkomplexe, die mit spezifischen klinischen Symptomen assoziiert werden, genauer analysiert werden, um Hypothesen über ihre jeweiligen pathobiologischen Mechanismen zu entwickeln. Dies erleichtert die Annäherung an Erkrankungsursachen sowie infolge die Suche nach gezielten therapeutischen Maßnahmen.“
Über die VR-Plattform
Die von Menches Forschungsgruppe entwickelte Plattform ist auf maximale Flexibilität und Erweiterbarkeit ausgelegt. Zu den wichtigsten Funktionen gehören der Import von benutzerdefinierten Codes für die Datenanalyse, eine einfache Integration externer Datenbanken und hoher Gestaltungsspielraum für beliebige Elemente der Benutzeroberfläche. Dabei konnten die ForscherInnen auf eine Technologie zurückgreifen, die normalerweise in der Entwicklung von 3-D-Computerspielen genutzt wird, wie zum Beispiel für das weltweit populäre Spiel Fortnite. Durch die Veröffentlichung des Quellcodes hoffen die WissenschaftlerInnen, auch andere EntwicklerInnen vom Potenzial von Virtual Reality zur Analyse wissenschaftlicher Daten überzeugen zu können.
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Die Studie „VRNetzer: A Virtual Reality Network Analysis Platform“ erschien in der Zeitschrift Nature Communications am 23.04.2021. DOI: 10.1038/s41467-021-22570-w.
AutorInnen: Sebastian Pirch, Felix Müller, Eugenia Iofinova, Julia Pazmandi, Christiane V. R. Hütter, Martin Chiettini, Celine Sin, Kaan Boztug, Iana Podkosova, Hannes Kaufmann & Jörg Menche
Förderung: Die Studie wurde unterstützt vom Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds (WWTF) durch die Projekte VRG15-005 und NXT19-008 sowie durch einen Epic MegaGrant.
Jörg Menche studierte Physik in Leipzig, Recife und Berlin. Er promovierte bei Reinhard Lipowsky am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam und war Postdoc bei Albert-László Barabási an der Northeastern University und am Center for Cancer Systems Biology am Dana Farber Cancer Institute in Boston. 2015 kam er als Forschungsgruppenleiter an das CeMM. 2020 übernahm Menche eine Professur am Institut für Mathematik der Universität Wien sowie an den Max Perutz Labs, einem Joint Venture der Universität Wien sowie der Medizinischen Universität Wien. Am CeMM ist Jörg Menche weiterhin Adjunct Principal Investigator.
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Das CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist eine internationale, unabhängige und interdisziplinäre Forschungseinrichtung für molekulare Medizin unter wissenschaftlicher Leitung von Giulio Superti-Furga. Das CeMM orientiert sich an den medizinischen Erfordernissen und integriert Grundlagenforschung sowie klinische Expertise um innovative diagnostische und therapeutische Ansätze für eine Präzisionsmedizin zu entwickeln. Die Forschungsschwerpunkte sind Krebs, Entzündungen, Stoffwechsel- und Immunstörungen, sowie seltene Erkrankungen. Das Forschungsgebäude des Institutes befindet sich am Campus der Medizinischen Universität und des Allgemeinen Krankenhauses Wien.
www.cemm.at
Die Max Perutz Labs sind ein Joint Venture der Universität Wien und der Medizinischen Universität Wien. Das Institut betreibt herausragende, international anerkannte Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Molekularbiologie. WissenschaftlerInnen der Max Perutz Labs erforschen grundlegende, mechanistische Prozesse in der Biomedizin und verbinden innovative Grundlagenforschung mit medizinisch relevanten Fragestellungen.
Die Max Perutz Labs sind Teil des Vienna BioCenter, einem führenden Hotspot der Lebenswissenschaften in Europa. Am Institut sind rund 50 Forschungsgruppen mit mehr als 450 MitarbeiterInnen aus 40 Nationen tätig. www.maxperutzlabs.ac.at
Die St. Anna Kinderkrebsforschung (St. Anna Children’s Cancer Research Institute, St. Anna CCRI) ist eine internationale und interdisziplinäre Forschungseinrichtung, die das Ziel verfolgt, durch innovative Forschung sowie diagnostische, prognostische und therapeutische Strategien die Behandlung von an Krebs erkrankten Kindern und Jugendlichen weiterzuentwickeln und weltweit zu verbessern. Unter Einbeziehung der spezifischen Besonderheiten kindlicher Tumorerkrankungen arbeiten engagierte Forschungsgruppen auf den Gebieten Tumorgenomik und -epigenomik, Immunologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Bioinformatik und klinische Forschung gemeinsam daran, neueste wissenschaftlich-experimentelle Erkenntnisse mit den klinischen Bedürfnissen der Ärztinnen und Ärzte in Einklang zu bringen und das Wohlergehen der jungen Patientinnen und Patienten nachhaltig zu verbessern. Weitere Informationen: www.ccri.at, www.kinderkrebsforschung.at
Originalpublikation:
https://www.nature.com/articles/s41467-021-22570-w
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Informationstechnik, Medizin
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
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