Warum Studierende seltener zu Vorlesungen und Seminaren gehen



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17.04.2019 12:02

Warum Studierende seltener zu Vorlesungen und Seminaren gehen

Forscher der TU Chemnitz legt umfassende Untersuchung zu Motivationshemmnissen von Studierenden in Vorlesungen und Seminaren vor – Video- und Audio-Einordnung verfügbar

Zu langweilig, zu veraltet, zu wenig interaktiv – das sind wesentliche Erkenntnisse einer Untersuchung der Technischen Universität Chemnitz zum Einsatz didaktischer Methoden, dem Interaktionsverhalten von Dozentinnen und Dozenten mit den Studierenden sowie zur Wirksamkeit pädagogisch-psychologischer Beratung der Lehrenden in Vorlesungen. Vorgelegt hat die Studie Dr. René Bochmann, Lehrbeauftragter an der Professur für Pädagogische und Entwicklungspsychologie der TU Chemnitz.

„Meine Studie hat gezeigt, dass sich Studierende mehr Teilhabe und Interaktivität im Unterricht wünschen, als das in den klassischen Formaten wie Vorlesung und Seminaren mit Referaten aktuell möglich ist. Gravierend kommt noch hinzu, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen den Studienleistungen und dem Besuch der Lehrveranstaltung gibt. Das macht den Handlungsbedarf nochmal wesentlich dringender“, ordnet Bochmann einen weiteren wesentlichen Befund seiner Untersuchung ein. Der Wissenschaftler fordert: Dozentinnen und Dozenten sollten künftig weniger klassisch als Lehrerin oder Lehrer im Frontalunterricht auftreten, sondern mehr als Coach und Beraterin oder Berater, die Studierende in ihrem jeweils eigenen Lernprozess begleiten und unterstützen.
Die Studie mit dem Titel „Einsatz didaktischer Methoden, Interaktionsverhalten und Wirksamkeit pädagogisch-psychologischer Beratungen von Lehrenden an deutschen Hochschulen“ ist als Dissertation erschienen. Sie wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Förderschwerpunkts „Wissenschafts- und Hochschulforschung“ in der Förderrichtlinie „Begleitforschung zum Qualitätspakt Lehre“ gefördert.

Umfassende Untersuchung in vier Einzelstudien – Mangelnde Besuchszahlen und fehlende Mitarbeit

Am Beginn von Bochmanns Forschung standen die Ergebnisse aus vorherigen Untersuchungen. Demnach bleiben immer mehr Studierende den Vorlesungen an deutschen Hochschulen fern, der Forscher spricht von „mangelnden Besuchszahlen und fehlender Mitarbeit“. Bochmann dazu: „Aus der Forschung geht hervor, dass Studierende an Universitäten im Jahr 2013 die Lehrveranstaltungen ihrer Hochschule deutlich seltener besuchten als noch im Jahr 2010.“ So habe die durchschnittliche Besuchszeit 2010 noch 18,2 Stunden betragen und sank 2013 auf 15,9 Stunden pro Woche. Bochmann stellte in seiner Untersuchung für 2018 einen weiteren leichten Rückgang auf 15,8 Stunden pro Woche für den Besuch von Lehrveranstaltungen fest.

„Ich bin davon ausgegangen, dass Studierende signifikant weniger Vorlesungen als Seminare und Übungen besuchen“, sagt Bochmann in Bezug auf die Studierenden. In Bezug auf die Lehrenden war seine Vermutung, „dass Lehrende nur einen Bruchteil der zur Verfügung stehenden Methoden nutzen und überwiegend auf die klassische Formate mit Frontalunterricht setzen“. Ein Zusammenhang zwischen dem Fernbleiben auf der einen und dem Einsatz klassischer Lehrformate wie der Vorlesung auf der anderen Seit sei naheliegend gewesen – und bestätigte sich.

Daher sei ein zentrales Ziel für die Studie gewesen, die Gründe für den sogenannten „Absentismus“, also das Fernbleiben vom Unterricht, herauszufinden. In einem zweiten Schritt sei es darum gegangen, Dozentinnen und Dozenten konkrete Empfehlungen für eine moderne Unterrichtsgestaltung an die Hand zu geben. Da die Beantwortung dieser Frage komplex und von weiteren Faktoren wie dem Aufbau des Unterrichts und der Lehrpersönlichkeit abhängig sei, entwarf Bochmann vier Einzelstudien zu unterschiedlichen Problemfeldern:

1. Gründe für den Absentismus
2. Einsatz didaktischer Methoden in Vorlesungen
3. Dozentinnen- und Dozentenberatung
4. Video-Analyse

Absentismus wirkt sich negativ auf Noten aus

Für den ersten Teil seiner Untersuchung befragte Bochmann rund 2.000 Studierende an 42 Hochschulen über einen Zeitraum von vier Jahren per Fragebogen. Dafür war er auf dem Campus der jeweiligen Hochschule vor Ort und sprach auch mit Studierenden, die während der Vorlesungen nicht im Hörsaal oder Seminarraum waren und daher vermutlich dem Unterricht bewusst fernblieben. „Ein wichtiger Befund aus dieser Befragung war, dass Studierende die klassischen Lehrveranstaltungen mit Frontalunterricht oft als langweilig und monoton empfinden. Des Weiteren, dass Vorlesungen gegenüber Seminaren und Übungen am wenigsten genutzt werden“, fasst Bochmann zusammen.

Das Ergebnis hat insofern Brisanz, als dass die Vorlesung nach wie vor die Hauptlehrveranstaltung ist. Aber: „Die Studierenden wollen keine rein passiven Wissenskonsumenten mehr sein, sondern selbst Einfluss nehmen und den Unterricht mitgestalten“, fand der Forscher heraus und betont: „Referatsseminare und Vorlesungen bedürfen einer dringenden Erneuerung.“

Ein weiteres Ergebnis aus diesem Teilbereich der Untersuchung war, dass es „eine direkte positive Korrelation“ zwischen den aktuellen Noten und der Anwesenheit der Studierenden gebe. Das mache die Notwendigkeit zu handeln und die Hochschullehre moderner zu gestalten umso „dringlicher und relevanter“, betont Bochmann.
Kaum Methoden-Kenntnis bei Dozentinnen und Dozenten

Für den zweiten Teilbereich der Studie befragte Bochmann 983 Hochschullehrerinnen und -lehrer per Telefon und Online-Fragebogen. Er wollte so herausfinden, welche Lehrmethoden Dozentinnen und Dozenten kennen und tatsächlich auch in ihrem Unterricht anwenden. Demnach habe mehr als die Hälfte der Befragten die 50 präsentierten Unterrichtsmethoden gekannt, aber: „Von den bekannten Methoden wird nur rund ein Drittel angewendet“, fasst Bochmann zusammen. Das Problem dabei: Die zu starke Fokussierung auf klassische Lehrmethoden mit Vortrag und Skripten behindere den Einsatz interaktiverer Methoden wie Gruppenarbeiten und Diskussionen. Allerdings trüge gerade der vielseitige Einsatz verschiedener Lehrformate zu guten Lernergebnissen bei und auch zu besseren Evaluationen der Lehrenden.

Mehr Selbstbestimmung und höherer Unterhaltungswert gewünscht

Doch was tun? Dafür begleitete René Bochmann im dritten und vierten Teilprojekt 44 Hochschullehrerinnen und -lehrer von zwölf deutschen Hochschulen. Es ist Teil des wissenschaftlichen Beratungsansatzes, der ebenfalls zur Untersuchung gehört. „Wissenschaftliche Beratung ist ein wesentlicher Faktor, um die Wirksamkeit neuer didaktischer Methoden in der Hochschullehre zu überprüfen oder überhaupt erst zu initiieren“, erklärt Bochmann. Dafür untersuchte er in seiner Studie mittels Lehrevaluation und Video-Aufzeichnung und anschließender -Auswertung den Einsatz und die Effektivität der eingesetzten Methoden in den jeweiligen Fallbeispielen.

Die Qualität der Unterrichtsproben beurteilten Studierende, die Dozierenden selbst sowie externe Dozentinnen und Dozenten als sogenannte „Fremdurteiler“: „In der Auswertung zeigte sich, dass der Frontalunterricht weniger effektiv war“, sagt Bochmann. „Wir können anhand unserer Ergebnisse sehen, dass sich Studierende wesentlich mehr Einfluss auf die Art der Wissensvermittlung und die Veranstaltung selbst wünschen. Sie wünschen sich eine unterhaltsamere Vorlesung, die besser organisiert ist. Außerdem möchten Sie selbst bestimmen, wann sie sich das Unterrichtsmaterial ansehen“, fasst der Forscher zusammen.

Zentrales Ergebnis: Beratungsangebote verbessern die Lehrqualität – Zeit für Veränderungen geben

Die Ergebnisse sprechen weiterhin dafür, dass Dozierende mit intensiven Beratungsangeboten langfristig bei der Umsetzung von Veränderungszielen unterstützt werden sollten. „Kurze Beratungsinterventionen, eine bloße Rückmeldung der Lehrevaluation oder schriftliche Beratungsmaterialien erzielten keine nachhaltige Wirksamkeit auf die Qualität der Lehre und die Anwesenheit der Studierenden. Das gehört zu den wichtigsten Ergebnissen aus meiner Untersuchung“, betont Bochmann.
Ein Wissenstest, mit dem der Forscher anschießend den Kenntnisstand des Unterrichtsstoffes aus der Vorlesung prüfte, habe diese Beobachtung bestätigt: „Dozierende sollten Zeit für die Erarbeitung von Veränderungszielen haben.

Videoaufzeichnungen und digitale Lernplattformen könnten neben der Einzelberatung auch Grundlage einer kollegialen Beratung sein und sollten von professionellen Beraterinnen oder Beratern begleitet werden.

Mehr Interaktivität: „Inverted Classroom“ als wichtiger Baustein für zeitgemäßere Lehre

In seiner Studie zieht Bochmann auch relevante Schlüsse für eine zeitgemäße Weiterentwicklung der Hochschullehre: „Das Format der reinen Präsenzlehre mittels Vortrag ist inzwischen zu unattraktiv, das zeigen meine Ergebnisse. Wir müssen Studierende mehr als selbstbestimmte Akteure ihres eigenen Lernprozesses wahrnehmen“, macht Dr. René Bochmann klar. Konkret könnten moderne und digitale Lehrmethoden wie „Inverted Classroom“ den Nutzen der Lehre trotz online verfügbarer Inhalte erhalten. Der Lernstoff werde von den Studierenden zunächst eigenständig oder in Gruppen anhand von Texten oder Videos selbstständig erarbeitet und später in Präsenzveranstaltungen interaktiv an praxisnahen Beispielen besprochen, angewandt und vertieft.

„Der Dozent fungiert in diesem Modell nicht mehr als Vortragender, sondern mehr als Coach, der Studierende in ihrem eigenen Lernprozess begleitet.“ In regelmäßigen Zwischenprüfungen könne der Fortschritt dieses individuellen Lernens überprüft werden. In der Praxis sollte eine Kombinationen mehrerer Lehr- und Lernmethoden angestrebt werden: „Zum Beispiel treffen sich Studierende und Dozierende zeitweise persönlich, greifen aber zwischendurch immer wieder auf digitale Angebote zurück, um Wissen selbstständig zu vertiefen oder anzuwenden.“

Es geht im Kern darum, die Grundlagen für eine neue und nachhaltige Lehre an Universitäten und Hochschulen zu legen, die die Studierenden als selbstbestimmte Akteurinnen und Akteure ihres eigenen Lernprozesses ernst nimmt.


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. René Bochmann, Pädagogische und Entwicklungspsychologie der TU Chemnitz, Tel.: +49 (0)371/531-36128, E-Mail rene.bochmann@psychologie.tu-chemnitz.de


Originalpublikation:

Weitere Hinweise zur Studie von Dr. Renè Bochmann sind online verfügbar: http://bit.ly/2V6l1h2


Weitere Informationen:

https://www.youtube.com/watch?v=3U3nE9av-VE


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Lehrer/Schüler, Wissenschaftler
Psychologie
überregional
Forschungsergebnisse, Studium und Lehre
Deutsch


Quelle: IDW