Antibiotikaverbrauch stieg im ersten Pandemiejahr massiv



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18.12.2023 10:20

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

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Antibiotikaverbrauch stieg im ersten Pandemiejahr massiv

Antibiotika nützen nichts gegen Viren, auch nicht gegen das Coronavirus. Dennoch verschrieben Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz im ersten Jahr der Pandemie etwa doppelt so häufig antibakterielle Medikamente wie zuvor, berichten Forschende der Universität Basel. Eine riskante Praxis, warnt das Forschungsteam.

Es war eine Zeit grosser Unsicherheit: Als ab dem Frühjahr 2020 die erste Coronawelle über die Schweiz rollte, gab es weder diagnostische Tests noch eine Impfung noch wirksame Medikamente. In dieser Phase der Verunsicherung griffen in der Schweiz niedergelassene Ärztinnen und Ärzte in der Grundversorgung offenbar vermehrt auf Antibiotika zurück, um Patientinnen und Patienten zu behandeln, obwohl diese Medikamente gegen Viren nichts ausrichten. Zu diesem Schluss kommt ein Forschungsteam um Prof. Dr. Heiner Bucher vom Departement Klinische Forschung der Universität und des Universitätsspitals Basel.

Wie das Team im Fachjournal «Clinical Microbiology and Infection» berichtet, verdoppelte sich der Einsatz von Antibiotika von rund 8 auf 16 Antibiotikaverschreibungen pro 100 Konsultationen. Während der ersten Sars-CoV-2-Welle zu Jahresbeginn 2020 zeigte sich ein massiver Anstieg der Antibiotikaverschreibungen. Diese hielten sich ab Frühjahr 2020 für das ganze Jahr auf überdurchschnittlich hohem Niveau im Vergleich zu den Vorjahren 2017 bis 2019.

Die Forscherinnen und Forscher begannen ihre Studie bereits 2017 vor der Pandemie im Rahmen des Nationalfondsprogrammes NRP 72 «Antimikrobielle Resistenz». Grundlage waren vollständig anonymisierte individuelle Patientendaten von über zwei Millionen Krankenversicherten aller Altersgruppen sowie Abrechnungsdaten von Ärztinnen und Ärzten. Wie sich die Coronapandemie auf die Verschreibungspraxis auswirkte, untersuchten die Forschenden mit Fokus auf 2945 Allgemeinmedizinerinnen und Kinderärzte, die in den Vorjahren bereits eine mittlere bis hohe Rate an Antibiotikaverschreibungen aufwiesen.

Risiko für Resistenzen

Das Ergebnis: Die massiv erhöhte Verschreibungspraxis zeigte sich für alle Antibiotikaklassen, auch solche, welche primär nicht zur Behandlung von Atemwegsinfekten vorgesehen sind. «Das ist besonders besorgniserregend, da übermässiger und falscher Antibiotikagebrauch das Risiko erhöht, dass Bakterien gegen den verwendeten Wirkstoff resistent werden», sagt Heiner Bucher. Multiresistente Bakterien führen zu Infektionen, die sich kaum mehr behandeln lassen.

Laut Analyse der Forschenden war die erhöhte Verschreibungspraxis nicht auf eine «Blindverschreibung», etwa durch Telefonkonsultationen, zurückzuführen. Der Grossteil der Verschreibungen erfolgte bei Konsultationen in der Praxis. Ebenso zeigte sich, dass Ärztinnen und Ärzte mehr Bluttests für einen Entzündungsnachweis in ihren Praxen durchführten. Am ehesten sei der massive Anstieg an Verschreibungen wohl mit der Sorge zu erklären, dass es bei einer Covid-19-Infektion zusätzlich zu bakteriellen Komplikationen kommen könnte. Auch der Mangel an Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten gegen Covid-19 spielte wohl eine Rolle, vermuten die Forschenden.

Verletzliche Patientinnen und Patienten

Die Ärztinnen und Ärzte in der Studie fanden sich im ersten Pandemiejahr vor allem mit besonders verletzlichen Patientengruppen konfrontiert: Während sich insgesamt die Zahl der Konsultationen im ersten Pandemiejahr gegenüber den Vorjahren halbierte, nahm die Anzahl der Konsultationen bei Patientinnen und Patienten mit teils schweren Vorerkrankungen auf das Doppelte zu.

«In der Vorbereitung auf künftige Pandemien müssen wir den zu erwartenden massiven Antibiotikagebrauch mit geeigneten Massnahmen wie gezielten Informationsstrategien einschränken, um unnötige Verschreibungen und das Risiko von Resistenzen zu reduzieren», betont Heiner Bucher.

Das Forschungsteam will nun untersuchen, ob sich die Verschreibungspraxis in den Folgejahren der Pandemie erneut verändert hat. Ausserdem möchte es in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Zentrum für Antibiotikaresistenzen herausfinden, wie sich die Resistenzbildung infolge des erhöhten Antibiotikagebrauchs entwickelt.


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. med. Heiner C. Bucher Emeritus, Universität Basel/Universitätsspital Basel, Departement Klinische Forschung, E-Mail: heiner.bucher@usb.ch, Tel. +41 79 542 98 60

Dr. Soheila Aghlmandi, Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB), E-Mail: Soheila.aghlmandi@ukbb.ch, Tel. +41 76 242 44 41


Originalpublikation:

Soheila Aghlmandi, Florian S. Halbeisen, Pascal Godet, Andri Signorell, Simon Sigrist, Ramon Saccilotto, Andreas F. Widmer, Andreas Zeller , Julia Bielicki, Heiner C. Bucher
Impact of the COVID-19 pandemic on antibiotic prescribing in high-prescribing primary care physicians in Switzerland
Clinical Microbiology and Infection (2023), doi: 10.1016/j.cmi.2023.11.010


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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch


 

Quelle: IDW