Video: Magnetische Dipole im Wasser sortieren sich selbst.
Wissenschaft und Religion möchten uns glauben machen, dass Dinge aus guten Gründen so sind, wie sie sind. Doch die letzte Ursache kann nicht mehr begründet werden. In der Religion wird sie zur Glaubenssache. Gilt das auch für die Naturwissenschaft?
Dinge, die nicht gehalten werden, fallen herunter. Ein Wasserglas fällt dann nicht zu Boden, wenn ein Tisch das Glas hält. Der Tisch wird vom Fußboden gehalten. Das Haus hält den Fußboden und die Erde hält schließlich das Haus. Allerdings akzeptieren weder Wissenschaft noch Religion die Erde als letzte Ursache dafür, dass das Wasserglas auf dem Tisch gehalten wird. Was ist aber dann die letzte Ursache?
Die Theorie der Schildkröte.
John Locke, britischer Philosoph der Aufklärung, veröffentlichte in seinem Hauptwerk (»Versuch über den menschlichen Verstand«, (1689), Buch II, 13. Kap., § 19 und Buch II, 23. Kap., § 2) zu dem Thema eine hübsche kleine Anekdote über eine Schildkröte. Diese geisterte danach jahrhundertelang in Variationen durch alle möglichen philosophischen Werke und landete schließlich im letzten Kapitel von »Eine kurze Geschichte der Zeit«, ohne dass der Autor und englische Astrophysiker Stephen Hawking bemerkte, woher die Anekdote eigentlich stammt. In seinem populären Bestseller steht nun eine »Theorie der Schildkröte« einträchtig und gleichberechtigt neben der Superstringtheorie:
A little old lady at the back of the room got up and said: What you have told us is rubbish. The world is really a flat plate supported on the back of a giant tortoise. The scientist gave a superior smile before replying, What is the tortoise standing on. You’re very clever, young man, very clever, said the old lady. But it’s turtles all the way down! (Hawking: A Brief History of Time, 1988).
(Übersetzung: Eine kleine alte Dame im Hintergrund des Raums stand auf und sagte: »Was haben Sie uns für einen Müll erzählt? Die Welt ist in Wirklichkeit eine flache Scheibe, die auf dem Rücken einer gigantischen Schildkröte ruht.« Der Wissenschaftler lächelte überlegen, bevor er antwortete: Worauf steht denn die Schildkröte? – »Sie mögen ja sehr schlau sein, junger Mann, wirklich sehr schlau«, sagte die alte Dame. »Aber von da an abwärts sind es nur noch Schildkröten!«)
Die Quelle der Riesenschildkröte (giant tortoise) sind hinduistische Denker der Antike. Diese glaubten, die Erde werde von einem gigantischen Elefanten gehalten. Wer hält aber den Elefanten? Der wird letztendlich von dieser ominösen Riesenschildkröte gehalten.
Die Hindus hüteten sich, unterhalb der Schildkröte, weitere Schildkröten zu platzieren, denn auch ihnen war an einer letzten Ursache gelegen. Wer sich ein wenig in indischer Mythologie auskennt, der weiß, dass im Hinduismus Vishnu als eine Manifestation des Höchsten auch schon mal die Gestalt einer riesigen Schildkröte annehmen kann. Somit müssen ein Glaubensakt und das Göttliche wie schon unzählige Male als Lückenbüßer für eine fehlende Erklärung herhalten. Kommt in der heutigen Naturwissenschaft als letzte Ursache auch das Göttliche infrage? Wird womöglich ein Glaubensakt beschworen, um zu erklären, warum die Welt so ist, wie sie ist?
Der Glaubensakt in der Physik.
Die Vertreter der rationalen Naturwissenschaft und ihrer Königsdisziplin der Physik haben das Problem des Glaubensakts erkannt und versuchen ihre Festung durch eine formale Antwort zu verteidigen. Physiker sehen allgemein ihre Aufgabe darin, Zustände und Vorgänge in Teilgebieten der Natur zu untersuchen und zu beschreiben. Wenn jemand von den Wissenschaftlern wissen möchte, warum die Welt so ist, wie sie ist, zucken sie meist ratlos mit den Schultern und sagen zu den Aufgaben der Physik gehöre nur, das Wie zu erklären, aber nicht das Warum.
Diese radikale Abgrenzung wird immer dann wie das Kaninchen aus dem Hut eines Zauberers geholt, wenn es um Fragen nach den letzten Ursachen geht. Bei weniger fundamentalen Fragen haben Physiker keine Hemmungen das Warum zu beantworten, wie die einleitenden Sätze in einem vielgekauften Physikbuch für Wissenschaftler und Ingenieure zeigen:
Wie wir bald sehen werden, lassen sich mit Grundkenntnissen der Physik zahlreiche Fragen beantworten […]: Weshalb ist der Himmel blau? […] Warum benötigt ein Hubschrauber zwei Rotoren? […] Warum gehen bewegte Uhren nach?(Tipler/Mosca: Physik, 6. Aufl., S. 1).
Das sind alles Fragen, die mit ein wenig Mathematik beantwortet werden können. Man kommt dabei nicht in die Lage zu erklären von wem oder was die Erde gehalten wird, die das Haus mit dem Fußboden und den Tisch hält. Wenn es allerdings um die Beantwortung tiefergehender Fragestellungen geht, dann gleicht die Antwort der Physik eher einer Superschildkröte. Das zeigt folgender Textauszug deutlich. Dieser stammt aus einem kürzlich von mir veröffentlichten Büchlein mit dem Titel »Supervereinigung« (ISBN 978-3-8391-8495-0):
Felder stellen anscheinend die grundlegende physikalische Wirklichkeit dar, weil sie die letzte Erklärungsebene der Physik sind. Teilchen sind Manifestationen dieser Wirklichkeit. Nach der Theorie existiert weder für die Gravitation, noch für den Magnetismus noch für die sonstigen Felder so etwas wie eine Fernwirkung. Jedes fundamentale Feld sei es ein Materie-, Kraft- oder Higgsfeld entspricht einem Teilchen und umgekehrt jedes Teilchen einem Feld. Bei den Schwingungen der Felder handelt es sich um Schwingungen abstrakter Feldgrößen, denn Felder werden ausschließlich durch ein System von Zahlen beschrieben, „die wir so festlegen, dass das, was an einem Punkt geschieht, nur von den Zahlen an diesem Punkt abhängt“ (Feynman). Niemand kann jedoch erklären, wie es möglich ist, dass Schwingungen abstrakter Feldgrößen Energie transportieren. Und niemand kann erklären, wie aus abstrakten Feldgrößen messbare Teilchen werden.
Wenn es darum geht, zu beschreiben, was in der Singularität des Urknallgeschehens vor sich ging, dann erleiden alle bisherigen Feldtheorien Schiffbruch. Raum und Zeit sollen nach der Urknalltheorie erst winzige Bruchteile von Sekunden nach der Singularität entstanden sein und seitdem dehnt sich der Raum aus. Die Felddefinition der Standardphysik setzt die Existenz von Raum voraus. Die Quantenfeldtheorien gehen von der vierdimensionalen Raumzeit aus, Stringtheorien von noch mehr Dimensionen. Wie kann eine Theorie, die den Raum voraussetzt, die Entstehung von Raum und Zeit beschreiben? Die Antwort lautet: Sie kann es nicht.
Das Problem hat zwei Facetten. Erstens gibt es eine rational unzulässige Vermischung der abstrakten, geistigen Ebene mit der physikalischen. Zwar können die Feldtheorien erfolgreich Messergebnisse voraussagen, aber physikalische Erklärungen müssen zwangsläufig scheitern. Man kann einfach nicht erklären, wie etwas Abstraktes, nämlich eine Feldgröße, etwas Reales, nämlich ein messbares Teilchen im Augenblick der Messung hervorbringen kann. Das wäre so, als wollte man erklären, wie die Zahl 70 ein Auto beschleunigt. Zahlen können keine Autos beschleunigen, genauso wenig wie Zahlen Energien transportieren oder Teilchen hervorbringen können. Weil man diese Vermischung zweier Ebenen zugelassen hat, stellt die Feldtheorie mit abstrakten Feldgrößen die letztmögliche Erklärungsebene dar. Aber es ist keine physikalische Erklärungsebene, sondern eine rational unzulässige und damit übernatürliche. Und genau an dieser Stelle hätte die Arbeit der Physiker weitergehen müssen, um als letzte Erklärungsebene eine rationale, physikalische zu finden.
Zweitens ist es nicht sinnvoll Raum und Zeit in der Definition fundamentaler Felder bereits vorauszusetzen. Dass solche Voraussetzungen tatsächlich implizit getroffen werden, zeigen die aus Feldern direkt abgeleiteten Bewegungsgleichungen der Feldtheorien, die die räumliche und zeitliche Entwicklung eines physikalischen Systems beschreiben. Besser wäre es, man würde eine Definition für physikalische Felder finden, die unabhängig ist von Raum und Zeit und die nicht auf abstrakten Feldgrößen basiert. Dann hätte man darauf aufbauend die Möglichkeit zu erklären, wie Raum und Zeit als Manifestationen eines kosmologischen Hintergrundfeldes entstanden sind oder immer noch entstehen. Man hätte eine letzte Erklärungsebene, auf der eine einheitliche Feldtheorie aufgebaut werden könnte.
Das Henne-Ei-Problem.
Für Physiker sind abstrakte Felder die letzte Ursache. Es ist also eine Superschildkröte, die auf ihrem Rücken alles trägt, was existiert. Und wie wir weiter oben gesehen haben, ist das Tier eine Manifestation von Vishnu, dem Göttlichen. Es ist kaum nachvollziehbar, dass Physiker von ihrem Publikum einen Glaubensakt erwarten, den normalerweise Vertreter der Religionen fordern. Das zeigt andererseits auch die Ratlosigkeit, die in der Naturwissenschaft herrscht, wenn es um Fragen nach der letzten Ursache geht.
Das müsste nicht so sein. Es gibt Erklärungsmuster, die ohne eine Superschildkröte auskommen. Der Weg dahin ist die Hinwendung zu einer geschlossenen Erklärungsschleife oder kausalen Schleife. Das hört sich ein wenig abstrakt an, hat aber durchaus Bezug zu unserer Welt. Nehmen wir als Beispiel die Scherzfrage, zu der ein ernster Hintergrund gehört: Was war zuerst da, die Henne oder das Ei?
Ohne Henne gibt es kein Ei, ohne Ei keine Henne. Das eine erklärt das andere und umgekehrt. Man darf nicht in den Fehler verfallen, Ei und Henne als isolierte Objekte zu betrachten. Vielmehr bilden Ei und Henne ein einziges System. Im Zusammenhang mit der biologischen Evolution waren die entwicklungsgeschichtlichen Vorläufer von Ei und Henne schon immer ein einziges System. Es ist nicht so, dass das Ei oder die Henne eigene Zweige des Stammbaums durchlaufen haben, von denen sich einer früher verzweigte, als der andere. Das System Henne-Ei ist abgeschlossen und braucht nicht zu erklären, was die letzte Ursache vom Ei oder der Henne ist, denn eine solche gibt es nicht. Unter dem Stichwort Selbstorganisation findet man in der Naturwissenschaft weitere ähnliche Beispiele.
Würde man das Modell der Selbstorganisation auf die Beschreibung grundlegender physikalischer Vorgänge übertragen, könnte man sowohl die Schildkröte, wie die reflexhafte Abschottung gegenüber Fragen nach der letzten Ursache vermeiden, denn Selbstorganisation erklärt auch, warum es überhaupt keine letzte Ursache gibt.
Für Leser mit physikalischen Grundkenntnissen erkläre ich in meiner Veröffentlichung »Supervereinigung« (ISBN 978-3-8391-8495-0) ohne Superschildkröte und ohne finalem Glaubensakt, was unser Universum entstehen ließ und ihm Struktur, Energie, Licht und Materie verleiht. – Klaus-Dieter Sedlacek
Supervereinigung: Wie aus nichts alles entsteht. Ansatz einer großen einheitlichen Feldtheorie