13.07.2021 18:00
Durchbruch bei der Erforschung der altersbedingten Makuladegeneration
Die altersbedingte Makuladegeneration (AMD) ist die häufigste Erblindungsursache in den Industrieländern. Allein in Deutschland sind sieben Millionen Menschen betroffen, davon 500.000 im Spätstadium der Erkrankung, von denen etwa die Hälfte als sehbehindert registriert ist. Die AMD unterscheidet man in die “feuchte” und die “trockene” Form der Erkrankung. Gegen die trockene AMD, die sogenannte geographische Atrophie, gibt es derzeit keine Behandlungsmöglichkeiten.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Seit vielen Jahren ist bekannt, dass Entzündungen am Augenhintergrund eine Rolle bei der Entstehung von AMD spielen. Studien haben eine Reihe von Genen identifiziert, die die Aktivität des Komplementwegs regulieren – ein Schlüsselakteur in unserer Immunabwehr gegen Krankheitserreger – und die das Risiko einer Person für die Entwicklung der Krankheit beeinflussen. Diese Daten lassen vermuten, dass AMD zumindest teilweise durch ein Versagen der Komplementregulation im Auge verursacht wird. Doch die Rolle dieser Gene – Complement Faktor H (CFH) und Faktor H-Related 1 bis 5 (FHR1-5) – war bisher unklar.
Jetzt haben Forschende in Tübingen, Manchester und London neue Methoden entwickelt, um die Proteinprodukte dieser Gene mit Hilfe der sogenannten Massenspektrometrie zu messen. Ihre Zusammenarbeit wurde vom britischen Medical Research Council (MRC) gefördert.
Bei der Untersuchung des Spiegels von CFH und FHR1-5 im Blut konnte das internationale Forschungsteam erstmals zeigen, dass alle fünf FHR-Proteine bei Menschen mit AMD in höherer Konzentration vorhanden sind als bei Menschen ohne AMD. Anstoß für ihre Untersuchung waren die von Wissenschaftlern um Professor Simon Clark im letzten Jahr veröffentlichten Forschungsergebnisse in Nature Communications (2020) https://doi.org/10.1038/s41467-020-14499-3. Clark konnte darin zeigen, dass die Konzentration von FHR4 im Blut von Personen mit AMD höher ist. Tatsächlich sind es FHR1 und FHR2, die den höchsten Anstieg haben.
Das Wissenschaftsteam erforschte außerdem die Gene, die diese Proteine kodieren. Die Untersuchung bestätige, dass genau diese Gene das Risiko an AMD zu erkranken, regeln. Das spricht wiederum dafür, dass die Erhöhungen der Blutproteine durch das genetische Risiko beeinflusst wird, das die Aktivität des Komplementwegs regelt und die AMD-Entwicklung vorantreibt.
Ein zweites Forschungsteam unter der Leitung von Professorin Anneke de Hollander an der Radboud University in Nijmegen, Niederlande, hatte gleichzeitig ein ganz ähnliches Forschungsvorhaben und kam zu nahezu identischen Ergebnissen. Beide Studien wurden heute im American Journal of Human Genetics veröffentlicht.
Professor Dr. rer. nat. Simon Clark, Helmut-Ecker-Stiftungsprofessor für AMD an der Medizinischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, der die Arbeit mitbetreut hat, sagte: “Dies ist ein wegweisender Schritt in unserem Verständnis der treibenden Mechanismen hinter bestimmten Arten von AMD. Er folgt auf unsere ursprüngliche Entdeckung von FHR-4 im letzten Jahr. Obwohl jetzt bekannt ist, dass alle FHR-Proteine mit dem Krankheitsrisiko assoziiert sind, ist es unwahrscheinlich, dass dies bei allen AMD-Patienten der Fall ist. Daher wird die Möglichkeit, diese Proteine im Blut der Patienten zu messen, von entscheidender Bedeutung sein, um Patienten zu identifizieren, die irgendwann in der Zukunft auf FHR-gerichtete Therapien reagieren werden.“
Dr. Richard Unwin, der die Studie an der University of Manchester, UK, leitet, ergänzt: “Dies ist eine enorm wichtige Studie für Menschen mit AMD. Die Messung der Spiegel dieser FHR-Proteine war in den letzten Jahren eine große Herausforderung. Sie ist technisch sehr anspruchsvoll, da die Proteine in geringen Mengen im Blut vorhanden und sich sehr ähnlich sind. Durch den Einsatz modernster Massenspektrometrie-Methoden können wir diese Proteine nun sicher messen und zum ersten Mal zeigen, was ein wichtiger, wenn nicht sogar der wichtigste Faktor bei der Entstehung der AMD ist. Dies hat die Forschung wirklich vorangebracht und eröffnet ganz neue Bereiche für die Verbesserung der Patientenversorgung: Mit der Entwicklung neuer Behandlungen, die auf diese Proteine abzielen, oder durch die einfache Überwachung der Werte, um herauszufinden, wer ein höheres Maß an Komplementaktivierung hat und als solcher von komplementmodifizierenden Behandlungen profitieren wird.”
Fazit:
Die Studie weist nach, dass die AMD erblich bedingt ist. Sie zeigt Optionen auf, Patienten zu identifizieren, die dieses genetische Risiko in sich tragen, und zu selektieren, welche dieser Patienten voraussichtlich auf komplementmodifizierende Therapeutika ansprechen. Diese Medikamente sind aktuell in der Entwicklung und haben zum Ziel, den Spiegel der FHR-Proteine im Blut zu senken und damit das Risiko oder ein Fortschreiten der Erblindung aufzuhalten.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Universitätsklinikum Tübingen
Forschungsinstitut für Augenheilkunde
Prof. Simon J. Clark, Helmut Ecker Endowed Professor of AMD
Elfriede-Aulhorn-Straße 7, 72076 Tübingen
simon.clark@uni-tuebingen.de
Originalpublikation:
Beyond factor H: The impact of genetic-risk variants for age-relate macular degeneration on circulating factor-H-like 1 and factor-H-related protein concentrations DOI: https://doi.org/10.1016/j.ajhg.2021.05.015
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Kooperationen
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