16.09.2020 12:43
Hoffnung auf Medikament gegen Magersucht
Anorexia nervosa, besser bekannt als Magersucht, ist eine schwerwiegende Essstörung. Behandelt werden Betroffene vornehmlich psychotherapeutisch, ein Medikament ist bislang nicht zugelassen. Wissenschaftlern der Medizinischen Fakultät der UDE ist es nun erstmals gelungen, den Zustand einer kleinen Patientengruppe über die Gabe eines Leptin-haltigen Medikaments maßgeblich zu verbessern. Das Fachmagazin Translational Psychiatry berichtet in seiner aktuellen Ausgabe.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Anorexia nervosa beginnt üblicherweise im zweiten Lebensjahrzehnt und trifft Frauen zehnmal häufiger als Männer. Betroffene sind stark untergewichtig, ziehen sich zurück und leiden zum Teil unter schweren Depressionen. Laut Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung haben Betroffene zudem ein mehr als 5-fach erhöhtes Sterberisiko gegenüber Gleichaltrigen ohne Erkrankung.
Bislang wird Anorexia Nervosa primär psychotherapeutisch behandelt, eigens zugelassene Medikamente gibt es nicht. Daher nahm die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Johannes Hebebrand, Ärztlicher Leiter der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am LVR-Klinikum in Essen, das Hormon Leptin ins Visier. Es reguliert die Anpassung des Körpers an einen Hungerzustand. Fällt der Leptin-Spiegel im Blut ab, werden zahlreiche körperliche Funktionen auf Sparflamme gesetzt; zugleich kommt es im Tiermodell zu einer übermäßigen körperlichen Aktivität. Ein Symptom, das auch viele Magersüchtige zeigen, die häufig exzessiv Sport treiben.
„Schon vor 20 Jahren konnten wir im Tierversuch zeigen, dass eine durch Hunger ausgelöste Hyperaktivität durch Gabe von Leptin gestoppt werden kann“, erklärt Hebebrand. Aber erst 2018 wurde das nun eingesetzte Medikament Metreleptin für die Behandlung einer seltenen Stoffwechselstörung zugelassen, was eine „Off-label-Verschreibung“ für die Studie möglich machte. Daraufhin haben die Wissenschaftler gemeinsam mit Schweizer Kollegen erstmals drei Patientinnen für ein bis zwei Wochen mit Leptin behandelt.
„Der Effekt übertraf unsere kühnsten Erwartungen“, freut sich Hebebrand. Bereits nach zwei bis drei Tagen besserte sich die Depression der Patientinnen deutlich. Sie konnten sich besser konzentrieren, ihr Bewegungsdrang verringerte sich, sie entwickelten wieder Interesse an ihrer Umwelt und nahmen vermehrt sozialen Kontakt auf. Sogar essstörungsspezifische Denkweisen wurden abgeschwächt. „Ich habe das Gefühl, Urlaub von meiner Essstörung zu haben“, sagte eine Patientin.
„Bevor jedoch eine breite Anwendung des Medikaments erwogen wird, müssen die Ergebnisse in kontrollierten Studien abgesichert werden“, betont Hebebrand.
Redaktion: Christine Harrell, Medizinische Fakultät, Tel. 0201/723-1615, christine.harrell@uk-essen.de
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. Johannes Hebebrand, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Tel. 0201/8707-465, johannes.hebebrand@uni-due.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Studierende, Wissenschaftler, jedermann
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
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