Neandertaler besaßen niedrigere Schmerzschwelle



Teilen: 

23.07.2020 17:00

Neandertaler besaßen niedrigere Schmerzschwelle

Schmerz wird durch spezielle Nervenzellen übertragen, die aktiviert werden, wenn potenziell schädliche Einflüsse auf verschiedene Teile unseres Körpers treffen. Diese Nervenzellen verfügen über einen speziellen Ionenkanal, der eine Schlüsselrolle beim Auslösen des elektrischen Schmerzimpulses spielt, der an das Gehirn übertragen wird. Einer neuen Studie von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und des Karolinska Institutets in Schweden zufolge empfinden Menschen mehr Schmerzen, die die Neandertaler-Variante dieses Ionenkanals geerbt haben.

Literature advertisement

Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Die stetig steigende Anzahl sequenzierter Neandertaler-Genome ermöglicht es Forschern nun erstmals, genetische Veränderungen zu identifizieren, die bei vielen oder allen Neandertalern vorhanden waren. Wenn diese Veränderungen bei heute lebenden Menschen vorkommen, können deren physiologische Auswirkungen im Vergleich zu Menschen ohne diese Genvariante untersucht werden. Ein Gen, das solche Veränderungen aufweist, haben Hugo Zeberg, Svante Pääbo und Kollegen genauer analysiert: Insbesondere Menschen aus Mittel- und Südamerika, aber auch in Europa, haben eine Neandertaler-Variante eines Gens geerbt, das für einen Ionenkanal kodiert, der die Schmerzempfindung auslöst.

Anhand von Daten aus einer umfangreichen Bevölkerungsstudie in Großbritannien zeigen die Autoren, dass Menschen, die die Neandertaler-Variante des Ionenkanals tragen, mehr Schmerzen empfinden. „Wie viel Schmerzen Menschen empfinden, ist vor allem von ihrem Alter abhängig. Menschen, die die Neandertaler-Variante des Ionenkanals haben, empfinden mehr Schmerzen – in etwa so, als wären sie acht Jahre älter“, sagt Erstautor Hugo Zeberg, Forscher am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und am Karolinska-Institut. „Die Neandertaler-Variante des Ionenkanals weist drei Aminosäure-Unterschiede zu der üblichen ‚modernen‘ Variante auf“, erklärt Zeberg. „Während einzelne Aminosäuresubstitutionen die Funktion des Ionenkanals nicht beeinträchtigen, führt die vollständige Neandertaler-Variante mit drei Aminosäuresubstitutionen bei heute lebenden Menschen zu einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit.”

Auf molekularer Ebene wird der Neandertaler-Ionenkanal leichter aktiviert, was erklären könnte, warum Menschen, die diesen geerbt haben, eine niedrigere Schmerzgrenze haben. „Ob Neandertaler mehr Schmerzen empfunden haben ist allerdings schwer zu sagen, weil Schmerz außerdem sowohl im Rückenmark als auch im Gehirn moduliert wird“, sagt Svante Pääbo. „Aber diese Arbeit zeigt, dass die Schwelle zur Auslösung von Schmerzimpulsen bei Neandertalern niedriger war als bei den meisten heute lebenden Menschen“.


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. Hugo Zeberg
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Leipzig &
Karolinska Institutet, Schweden
+46 730 6160-69
hugo.zeberg@ki.se

Prof. Dr. Svante Pääbo
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Leipzig
+49 341 3550-500
paabo@eva.mpg.de


Originalpublikation:

Hugo Zeberg, Michael Dannemann, Kristoffer Sahlholm, Kristin Tsuo, Tomislav Maricic, Victor Wiebe, Wulf Hevers, Hugh P.C. Robinson, Janet Kelso and Svante Pääbo
A Neandertal sodium channel increases pain sensitivity in present-day humans
Current Biology, 23 July 2020, https://doi.org/10.1016/j.cub.2020.06.045


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Geschichte / Archäologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch


Quelle: IDW