26.05.2020 13:01
Neuartige Strom-Impulse lindern den Schmerz
TU Wien und MedUni Wien untersuchten gemeinsam, wie man den Vagusnerv im Ohr am besten stimulieren kann. Dadurch lassen sich chronische Schmerzen bekämpfen.
Der Vagusnerv spielt für unseren Körper eine wichtige Rolle. Er besteht aus verschiedenen Fasern, manche davon reichen zu den inneren Organen, aber auch im Ohr ist der Vagusnerv zu finden. Er hat eine große Bedeutung für verschiedene Körperfunktionen, unter anderem für die Schmerzempfindung. Daher wird seit Jahren daran geforscht, wie man den Vagusnerv mit speziellen Elektroden effektiv und gleichzeitig schonend stimulieren kann.
Ein wichtiger Schritt gelang nun durch eine Kooperation von TU Wien und MedUni Wien: In einer mikroanatomischen Studie wurde mit einer Präzision im Mikrometerbereich untersucht, wie der Vagusnerv im Ohr in Relation zu verschiedenen Blutgefäßen verläuft. Dann wurde am Computer ein 3D-Modell erstellt, um die optimale Stimulation mit Nadelelektroden zu berechnen. Die Ergebnisse wurden schließlich an Patient_innen getestet. So konnte man ein neuartiges Signalmuster ermitteln, das den Vagusnerv im Ohr besonders gut stimuliert.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Winzige Elektroden direkt am Ohr
Das Team des Elektrotechnikers Prof. Eugenijus Kaniusas (Institut für Microwave and Circuit Engineering, TU Wien) führte in Kooperation mit der Medizinischen Universität Wien bereits mehrere Studien durch, in denen chronische Schmerzen oder auch Durchblutungsstörungen mit einer elektrischen Stimulation des Vagusnervs im Ohr behandelt wurden. Dabei werden kleine Elektroden direkt ins Ohr gestochen, die dann – kontrolliert von einem kleinen tragbaren Gerät am Hals – bestimmte Stromimpulse aussenden.
Eine große Herausforderung ist es dabei allerdings, die Elektroden genau an der richtigen Stelle anzubringen. „Man sollte keine Blutgefäße treffen und die Elektrode genau im richtigen Abstand zum Nerv platzieren“, erklärt Eugenijus Kaniusas. „Ist die Elektrode zu weit entfernt, wird der Nerv nicht ausreichend stimuliert. Ist sie zu nah, dann ist das Signal zu stark. Der Nerv kann blockiert werden, mit der Zeit ,ermüden‘ und irgendwann keine Signale mehr ans Hirn weiterleiten.“
Bisher musste man sich bei der Positionierung der Elektroden auf Erfahrungswerte verlassen. Nun wurde erstmals in einer mikroanatomischen Studie im Detail untersucht, wie die Nervenfasern und Blutgefäße im Ohr räumlich verlaufen. Dazu wurden Schnittbilder von Gewebeproben hochauflösend fotografiert und dann von Babak Dabiri Razlighi, einem Forscher im Team von Eugenijus Kaniusas, am Computer zu einem dreidimensionalen Modell zusammengefügt.
„Die Blutgefäße kann man in Patienten gut sichtbar machen, indem man das Ohr durchleuchtet“, sagt Prof. Wolfgang J. Weninger von der MedUni Wien. „Die Nerven allerdings sieht man nicht. Unsere mikroanatomischen Messungen an Körperspenden sagen uns nun, wie die Nerven im Verhältnis zu Blutgefäßen verlaufen und wie groß im Durchschnitt der Abstand zwischen Blutgefäßen und Nerven an definierten Positionen ist. Das hilft uns dabei, die richtige Stelle für die Platzierung der Stimulationselektroden zu finden.“
Dreiphasen-Signal für optimale Stimulation
Außerdem lässt sich anhand des Computermodells auch berechnen, welche elektrischen Signale verwendet werden sollten. Nicht nur die Stärke des Signals ist dabei wichtig, sondern auch sein zeitlicher Verlauf: „In der Computersimulation zeigte sich erstmals, dass ein dreiphasiges Signalmuster aus der Sicht der Biophysik hilfreich sein sollte, ähnlich wie man es aus der Starkstromtechnik kennt – nur mit viel geringerer Stromstärke“, berichtet Kaniusas. „Drei verschiedene Elektroden liefern jeweils auf- und abschwellende Strompulse, aber nicht synchron, sondern auf ganz bestimmte Weise zeitversetzt.“
Diese Art der Stimulation wurde dann an Personen getestet, die an chronischen Schmerzen leiden – und tatsächlich erwies sich das dreiphasige Stimulationsmuster als besonders wirkungsvoll.
„Die Vagusnerv-Stimulation ist eine vielversprechende Technik, deren Wirkung mit unseren neuen Erkenntnissen objektiviert und nun noch weiter verbessert wird“, sagt Eugenijus Kaniusas. „Vor allem bei Menschen mit chronischen Schmerzen, die bereits ,austherapiert‘ sind und bei denen Medikamente keinen Nutzen mehr bringen, ist die Vagusnerv-Stimulation eine oft rettende Möglichkeit.“
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Eugenijus Kaniusas
Electrodynamics, Microwave and Circuit Engineering
Technische Universität Wien
Gußhausstraße 27-29, 1040 Wien
T +43-1-58801-35122
eugenijus.kaniusas@tuwien.ac.at
Originalpublikation:
B. Dabiri et al., High-Resolution Episcopic Imaging for Visualization of Dermal Arteries and Nerves of the Auricular Cymba Conchae in Humans, Front. Neuroanat. (2020)
https://doi.org/10.3389/fnana.2020.00022
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, jedermann
Elektrotechnik, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch