Neurowissenschaft: Wenn Serotonin das Licht dimmt



Teilen: 

18.09.2024 14:30

Literature advertisement

Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Neurowissenschaft: Wenn Serotonin das Licht dimmt

In unserem Gehirn werden Signale nicht immer auf dieselbe Weise verarbeitet: Bestimmte Rezeptoren modulieren diese Verarbeitungsprozesse. Sie beeinflussen so unsere Stimmung, Wahrnehmung und unser Verhalten auf vielfältige Weise. Zu dieser Gruppe gehört auch der 5-HT2A-Rezeptor, der eine Besonderheit hat: Er dämpft eintreffende visuelle Informationen, sodass unser Gehirn mehr Raum für interne Prozesse und Interpretationen hat. Diese Erkenntnis eines Forschungsteams der Ruhr-Universität Bochum könnte auch die Wirkung von Drogen wie LSD erklären: Wird der Rezeptor dadurch überaktiviert, werden externe Sinneseindrücke unterdrückt und vermehrt eigene Bilder erzeugt.

„Ein wenig so, als würde unser Gehirn mit sich selbst reden“, erklärt Prof. Dr. Dirk Jancke. Die Ergebnisse, die in der Zeitschrift Nature Communications vom 14. September 2024 veröffentlicht sind, liefern neue Einsichten für unser Verständnis von Wahrnehmung und psychischen Erkrankungen.

Im Dschungel der Serotonin-Rezeptoren

Rezeptoren vermitteln die Übertragung von Information zwischen Nervenzellen. So bewirkt die Ausschüttung des Botenstoffs Serotonin über zahlreiche Rezeptortypen eine Veränderung von Nervenzellaktivitäten im gesamten Gehirn. Mindestens 14 Rezeptortypen können unterschieden werden. „Die Sache ist besonders knifflig, weil die Rezeptoren selbst sowohl hemmend als auch aktivierend sein können“, so Dirk Jancke. „Zusätzlich werden sie auch noch in verschiedenen Zelltypen ausgeschüttet, die wiederum wechselseitig hemmenden oder erregenden Einfluss auf das gesamte Netzwerk haben.“
Mit Licht gegen die Dunkelheit im Gehirn

Die Untersuchung der Wirkung von Rezeptoren im Gehirn ist daher keine einfache Aufgabe. Herkömmliche pharmakologische Methoden zur Aufklärung neuronaler Netzwerkfunktion von Rezeptoren sind begrenzt. Sie sind meist nicht spezifisch genug und vor allem schlecht zu timen. Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Stefan Herlitze hat daher alternative Untersuchungsmethoden entwickelt. Dabei werden Lichtrezeptor-Proteine mithilfe von Viren in Nervenzellen eingebracht. Die Lichtrezeptor-Proteine sind gentechnisch so modifiziert, dass sie Funktionen eines ausgewählten Rezeptortyps imitieren können. Der ausgewählte Rezeptortyp wird damit wie über einen Lichtschalter an- und abschaltbar, präzise innerhalb weniger Millisekunden. Mäusen werden dazu hauchdünne Lichtleiter implantiert, die – über LEDs gesteuert – Licht der gewünschten Wellenlänge an die entsprechende Stelle im Gehirn bringen und dort den Rezeptor aktivieren.

5-HT2A Rezeptoren regulieren die Empfindsamkeit für sensorische Eingänge

Die Forschenden fanden auf diese Weise heraus, dass der 5-HT2A Rezeptor selektiv die Stärke eintreffender Sehinformation unterdrückt. „Erstaunlicherweise geschieht dies, ohne andere, parallel ablaufende Prozesse zu hemmen“, berichtet Dr. Ruxandra Barzan, Erstautorin der Studie. Das Gehirn reduziert somit die Bedeutung aktueller sensorischer Eingänge zugunsten interner Kommunikation und Interpretationsprozesse. „Das heißt, wir haben einen Mechanismus entdeckt, der reguliert, wie wichtig eingehende Informationen genommen werden“, sagt Ruxandra Barzan.
Halluzinationen verstehen, Therapieansätze entwickeln

Halluzinationen, die durch Drogen wie LSD ausgelöst werden, könne man daher als eine Art Selbstgespräch interpretieren, so Dirk Jancke. „Durch die Überaktivierung unterdrückt der 5-HT2A-Rezeptor von außen kommende Sinneseindrücke, und das Gehirn ersetzt sie durch eigene Produktionen.“ Im gesunden Gehirn aktiviert Serotonin verschiedene Rezeptortypen gleichzeitig, was gewährleistet, dass Informationsflüsse in ihrer Gewichtung ausbalanciert sind. Bei psychischen Erkrankungen kann diese Balance gestört sein. Die Erkenntnisse aus der Studie könnten dazu beitragen, neue Therapien zu entwickeln, bei denen gezielt ausgewählte Rezeptoren aktiviert werden, um das Gleichgewicht wiederherzustellen, hoffen die Forschenden. Psychedelische Drogen, die beispielsweise selektiv den 5-HT2A Rezeptor ansprechen, könnten unter fachärztlicher Aufsicht in geringer Dosierung und in definierten Lernkontexten zu Therapiezwecken genutzt werden, um Disbalancen in der Rezeptoraktivierung langfristig wieder auszugleichen.
Künstliche Intelligenz trifft auf Neurobiologie

Um die komplexen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Zelltypen und den Rezeptoren im Gehirn besser zu verstehen, setzten die Forschenden Computermodelle ein, die wesentliche Merkmale neuronaler Schaltkreise vereinfacht darstellen. Die Forschenden prüften die Hypothese, dass der Rezeptor die gefundenen Effekte nur dann entfaltet, wenn er gleichzeitig in hemmenden und aktivierenden Nervenzellen aktiviert wird. Diese Hypothese konnte durch die Modelle gestützt werden. Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Sen Cheng fand in ihren Simulationen heraus, dass nur die gleichzeitige Rezeptoraktivierung in hemmenden und erregenden Zellen zu Interaktionen im Netzwerk führen, die die experimentellen Befunde abbilden.

Kooperationspartner

Die Studie wurde gemeinsam von den Gruppen von Dirk Jancke, Sen Cheng, Prof. Dr. Melanie Mark und Stefan Herlitze im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 874 und des Graduiertenkollegs „MoNN&Di“ (Monoaminergic Neuronal Networks and Disease) erarbeitet. Maßgeblich beteiligt war die Erstautorin und Doktorandin der International Graduate School for Neuroscience Ruxandra Barzan unter der Leitung von Dirk Jancke.

Förderung

Die zugrundeliegenden Studien wurden durch Mittel des Sonderforschungsbereiches (SFB) 874 „Integration und Repräsentation sensorischer Prozesse“ und des Graduiertenkollegs „MoNN&Di“ unterstützt, sowie über weitere Einzelprojekt-Förderungen durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und des Bundesministeriums für Forschung und Bildung (BMBF) im Rahmen des EU-Projekts „I-See2“, ERA-Net Neuron “Horizon 2020”.


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Dirk Jancke
Optical Imaging Lab
Fakultät für Informatik
Institut für Neuroinformatik
Ruhr-Universität Bochum
Tel: +49 234 32 27845
E-Mail: dirk.jancke@ruhr-uni-bochum.de
Homepage der Arbeitsgruppe: https://jancke-lab.de/


Originalpublikation:

Ruxandra Barzan et al.: Gain Control of Sensory Input Across Polysynaptic Circuitries in Mouse Visual Cortex by a Single G Protein-Coupled Receptor Type (5-HT2A), in: Nature Communications, 2024, DOI: 10.1038/s41467-024-51861-1, https://www.nature.com/articles/s41467-024-51861-1


Bilder

Dirk Jancke (links) und Ruxandra Barzan vom Bochumer Forschungsteam

Dirk Jancke (links) und Ruxandra Barzan vom Bochumer Forschungsteam

© RUB, Kramer


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch


 

Quelle: IDW