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19.09.2023 11:30
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Tiefe Hirnstimulation des Kleinhirns führte zur Verbesserung der Armfunktion nach Schlaganfall
Nach einem Schlaganfall sind bleibende Behinderungen häufig, z. B. motorische Beeinträchtigungen der Extremitäten. Bei der Regeneration von Hirngewebe spielt die sogenannte Neuroplastizität eine große Rolle – dies zu fördern, ist Ziel und Herausforderung der Schlaganfallforschung. In einer Phase-I-Studie wurde nun erstmals bei 12 Menschen erfolgreich eine tiefe Hirnstimulation von Kleinhirnregionen eingesetzt, um über bestimmte Signalwege die funktionelle Reorganisation der betroffenen Hirnrinde zu modulieren. Im Ergebnis verbesserte sich die mittelschwer bis schwer beeinträchtigte Armmotorik signifikant – unabhängig davon, ob der Schlaganfall ein oder drei Jahre zurücklag.
Die Versorgung akuter Schlaganfälle hat sich in den letzten Jahren kontinuierlich weiter verbessert. Große Fortschritte wurden auch bei der (Rezidiv-)Prävention erzielt – weniger dagegen bei der Behandlung in der postakuten und chronischen Phase bzw. Rehabilitation. Fast die Hälfte der Schlaganfallüberlebenden leiden an bleibenden Behinderungen und benötigen Hilfe im täglichen Leben. Für die Erholung geschädigten Hirngewebes spielt die Neuroplastizität bekanntermaßen eine entscheidende Rolle. Die Nutzung des Potenzials der Neuroplastizität nach ischämischen und traumatischen Schädigungen des Gehirns wird in verschiedenen neurostimulationsbasierten Behandlungsansätzen in (prä-)klinischen Studien erforscht.
Erste klinische Daten zu einem neuen invasiven Ansatz zur Modulation bzw. Verbesserung der Neuroplastizität sowie zur Erweiterung des therapeutischen Zeitfensters wurden nun in der renommierten Fachzeitschrift „Nature“ publiziert [1]. Eingesetzt wurde die kontinuierliche elektrische Stimulation eines Nervenzellgebiets im Kleinhirn, des Nucleus dentatus cerebellaris (DN). Durch die Aktivierung des sogenannten dentato-thalamo-kortikalen Signalwegs, einer robusten physiologischen Verbindung des Kleinhirns mit kontralateralen motorischen und nicht-motorischen Gehirnbereichen, sollen die neuronale Aktivität und kortikale Erregungsfähigkeit moduliert werden. In früheren Arbeiten hatte die Forschergruppe an präklinischen Nagetiermodellen gezeigt, dass die tiefe Hirnstimulation (THS) des DN die Wiederherstellung der Funktion und die ipsiläsionale kortikale Reorganisation fördern kann (Verbesserung der kortikalen Erregbarkeit, Synaptogenese, Neuorganisation motorischer Kortexbereiche für die Funktion der betroffenen Extremität). Nun wurde dieser Forschungsansatz erstmals in einer offenen klinischen Phase-I-Studie bei zwölf Schlaganfall-Betroffenen mit mittelschweren bis schweren Beeinträchtigungen der Armfunktion angewendet. Ziel der Studie aus Cleveland (USA) war die Evaluierung der Durchführbarkeit und der Sicherheit einer neurochirurgischen Elektrodenimplantation und chronischen DN-THS im Kleinhirn.
Beim Screening von 11.541 elektronischen Krankenakten wurden 82 Personen gefunden, die die Einschlusskriterien erfüllten. Viele lehnten die Studienteilnahme ab, so dass letztendlich zwölf Teilnehmende rekrutiert werden konnten (Durchschnittsalter 57 ± 6 Jahre; 4/12 weiblich). Alle hatten vor 12 bis 36 Monaten (2,2 ± 0,7 Jahre) einen erstmaligen ischämischen Schlaganfall im Versorgungsgebiet der A. cerebri media (ohne Beteiligung von Zwischenhirn und Basalganglien) erlitten. Seitdem bestand eine mittelschwere bis schwere armbetonte Hemiparese mit einem mittleren motorischen Funktionsscore des Armes (FM-UE-Score „Upper Extremity Fugl-Meyer Assessment“) von 22,9 ± 6,2 Punkten (normal: 100 Punkte; <50: schwere motorische Schädigung).
Die neurochirurgische Implantation der DN-THS-Elektroden erfolgte im Zeitraum von 2016 bis 2020. Alle Teilnehmenden wurden monatlich untersucht, ggf. die THS-Einstellung angepasst und über insgesamt 20-24 Monate nachbeobachtet. Evaluiert wurden fünf Studienphasen: (1) vor und unmittelbar nach Implantation, (2) zweimonatige Rehabilitationsmaßnahme noch ohne Stimulation, (3) einschleichende Stimulation, dann für acht Monate DN-THS plus Rehabilitation, (4) zweimonatige Reha-Übergangsphase mit ausschleichender Stimulation, (5) Langzeit-Follow-up. Die letzte Kontrolle zur Datenerfassung erfolgte im November 2022.
Für die Sicherheit und Durchführbarkeit (primärer Outcome) konnten 168 Teilnahmemonate Erfahrung mit implantierten Elektroden und 72 Monate Erfahrung mit DN-THS-Stimulation analysiert werden. Die Elektrodenimplantation wurde gut vertragen, es gab keine größeren perioperativen oder späteren Komplikationen (wie Infektion, Blutung, Geräteausfälle) oder Todesfälle. Von 51 unerwünschten Ereignissen waren 21 studienassoziiert (z.B. Übelkeit, Schmerz); ließen sich aber mit Neuprogrammierung beheben (Ermittlung der Stimulationsschwelle für Nebenwirkungen).
Der sekundäre Outcome, die motorische Armfunktion (FM-UE-Score), verbesserte sich bei allen Teilnehmenden mit DN-THS im Median um +7 FM-UE-Punkte. Eine Post-hoc-Analyse zeigte speziell bei Teilnehmenden mit initialer Restfunktion der Armmotorik signifikante Verbesserungen (median +15 Punkte; p=0,0005) – unabhängig davon, wie lange der Schlaganfall zurücklag. Für die einzelnen Phasen ergaben sich folgende Veränderungen des FM-UE-Scores: (1) postoperativ FM-UE-Rückgang um median -0,5 Punkte (nicht signifikant), (2) Verbesserung um median +3 Punkte (p=0,004), (3) weitere Verbesserung um median +7 Punkte (p=0,0005) und ab Phase (4) keine weitere Veränderung. Die Funktionsverbesserungen waren direkt mit einer kortikalen funktionellen Reorganisation assoziiert, bestätigt durch einen erhöhten ipsiläsionalen Glukosestoffwechsel im PET.
„Wenn sich diese Ergebnisse in weiteren Studien bestätigen, eröffnen sich mit diesem Ansatz neue Möglichkeiten für die Unterstützung der Rehabilitation nach Schlaganfall“, so Prof. Dr. med. Götz Thomalla, UKE Hamburg, Sprecher der DGN-Kommission Zerebrovaskuläre Erkrankungen. „Von besonderer Bedeutung ist für die Betroffenen sowie für die betreuenden Ärztinnen und Ärzte, dass der Nutzen dieser Kleinhirn-THS offensichtlich nicht von der Zeitdauer nach dem Schlaganfall abhing. In größeren Studien müssen nun weitere Fragen geklärt werden, beispielsweise, ob ein möglichst früher Beginn während der initialen Rehabilitation die Ergebnisse weiter verbessern kann.“
[1] Baker KB, Plow EB, Nagel S et al. Cerebellar deep brain stimulation for chronic post-stroke motor rehabilitation: a phase I trial. Nat Med 2023 Aug 14. doi: 10.1038/s41591-023-02507-0. Online ahead of print.
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Originalpublikation:
doi: 10.1038/s41591-023-02507-0
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