26.02.2019 17:03
Wie Lesen wir in Zukunft? IWM-Forscherin unterzeichnet Stavanger-Erklärung
Lesen auf Papier oder digital am Bildschirm? Mehr als 130 Forschende weisen in einer gemeinsamen Erklärung darauf hin, dass die Frage, was besser ist, nicht pauschal zu beantworten ist. Eine von ihnen ist Dr. Yvonne Kammerer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Wissensmedien in Tübingen (IWM). Sie stellt aber auch klar: Lesen muss geübt werden – egal, ob off- oder online.
Was macht die zunehmende Zahl digitaler Angebote mit uns Lesern? Und wie sollen Kinder heute lesen lernen? Dies sind Fragen, mit denen sich Leseforscherinnen und -forscher wie die Mitglieder der europäische Forschungsinitiative Evolution of Reading in the Age of Digitisation (E-READ) beschäftigen. In der so genannten Stavanger-Erklärung, die mehr als 130 von ihnen unterzeichnet haben, fassen sie die Erkenntnisse ihrer Arbeit zusammen.
Die Tübinger Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am IWM Dr. Yvonne Kammerer ist seit 2014 Mitglied des E-READ-Netzwerks und hat die Erklärung mitunterzeichnet. „Für das Verstehen und Erinnern von langen Sachtexten macht es schon einen Unterschied, ob sie gedruckt, oder am Bildschirm gelesen werden“, hebt sie hervor und verweist auf eine Metastudie von Delgado und Kollegen, für die 54 Studien mit insgesamt 170.000 Teilnehmern analysiert wurden. Ergebnis: Beim Lesen von langen Informationstexten ist das Papier dem Bildschirm überlegen, wenn man die Erinnerungsleistung und das Textverständnis misst. Dies gilt vor allem unter Zeitdruck. Beim Lesen narrativer Texte hingegen scheint es keinen Unterschied zu machen, welches Medium zur Lektüre genutzt wird. „Wenn wir wissen wollen, welches Medium vorteilhaft für die Leserinnen und Leser ist, müssen wir immer die Randbedingungen anschauen, also z.B. die Länge und Art der Leseaufgabe und die konkrete Gestaltung eines Texts“, sagt die Tübinger Wissenschaftlerin.
Am Bildschirm werden Texte flüchtiger gelesen
Wohl noch nie wurde so viel gelesen wie heute, noch nie waren Texte so schnell verfügbar. Das hat Folgen: Am Bildschirm neigen Leserinnen und Leser dazu, oberflächlicher und schneller zu lesen und Internet-Texte eher zu scannen, anstatt Zeile für Zeile linear zu lesen. „Das hat beispielsweise etwas mit der Fülle an Informationen zu tun, die im Internet zur Verfügung stehen“, sagt Dr. Yvonne Kammerer. Am IWM erforscht sie bereits seit mehreren Jahren, wie Informationen im Internet gesucht, bewertet und verstanden werden. „Bei narrativen Texten wiederum muss man weniger Wort für Wort verstehen. Es geht darum, die Geschichte nachzuvollziehen. Solche Texte werden normalerweise auch nicht am PC gelesen, sondern gemütlich auf dem Sofa am E-Reader.“ In den handlichen Geräten wie Tablets und E-Readern sieht Kammerer sogar einen Vorteil für das Lesen: „Wir können Dinge antippen, zoomen und verschieben. Das spielt möglicherweise eine Rolle beim Leseverständnis. Ein Buch lässt sich vor- und zurückblättern und man hat die Seiten in der Hand. Diese haptische Orientierung ist am Bildschirm ohne Touchfunktion schwieriger. Vor allem bei langen Texten, bei denen man viel scrollen muss, ist das ein Problem.“
Auch Digital Natives müssen Lesen am Bildschirm üben
Doch egal, wie nun ein Text vorliegt – am Bildschirm, am Tablet oder auf Papier – für Dr. Kammerer ist vor allem eines wichtig: „Wir müssen Lesen üben und effektive Lesestrategien vermitteln.“ Das gilt auch für die sogenannten Digital Natives. „Die Metaanalyse ergab auch, dass viele Leser ihr Leseverständnis bei digitalen Medien eher überschätzen und das Gefühl haben, alles super verstanden zu haben, auch wenn das in Wirklichkeit nicht der Fall ist.“ Die Unterzeichner der Stavanger-Erklärung plädieren daher dafür, die Digitalisierung in der Schule mit Lernstrategien und digitalen Lerntools zu begleiten. „Dabei geht es darum, wissenschaftliche Ergebnisse zu berücksichtigen und nicht nur wahllos neue Systeme zu entwickeln“, kommentiert Dr. Kammerer. „Gleichzeitig müssen Informations- und Medienkompetenzen geschult werden. Gerade am kritisch-reflektierten Umfang fehlt es oft: Informationen vergleichen, bewerten und verständnisorientiert lesen.“
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Medien- und Kommunikationswissenschaften, Pädagogik / Bildung, Psychologie, Sprache / Literatur
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
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