Heidelberg. Das Gehirn nachbauen! Das klingt wie der Gipfel wissenschaftlicher Vermessenheit. Gilt doch das menschliche Denkorgan gemeinhin als komplexeste Gebilde der Natur. “Spektrum der Wissenschaft” beschreibt in seiner September-Ausgabe die beiden vielversprechendsten Wege zu diesem Ziel.
Hier zeigen der Neurologe Henry Markram aus Lausanne und der Physiker Karlheinz Meier aus Heidelberg, wie sie Hirnstrukturen mittels Supercomputer simulieren oder den Nachbau des Gehirns mit konkreten elektronischen Schaltungen bewerkstelligen möchten. Beide Vorhaben der Kunsthirnforscher sind Teil der so genannten europäischen Flaggschiffprojekte, denen am Ende Milliarden Euro an Forschungsförderung winken könnten. Ein virtuelles Gehirn könnte in der medizinischen Forschung als Ersatz für das echte Organ dienen und so etwa neue Erkenntnisse über die Ursachen psychischer Störungen wie des Autismus liefern oder die risikolose Prüfung neuer Psychopharmaka “in silico” ermöglichen.
Zum Hintergrund: Das Gehirn im Labor zu imitieren oder zu simulieren ist keinesfalls unumstritten. Kritiker halten das Projekt daher entweder für nutzlos oder für unmöglich. Die Befürworter versprechen sich dagegen davon einen Vorstoß in neue Dimensionen der Computertechnologie, neue Impulse für die Entwicklung künstlicher Intelligenz sowie tiefe Einblicke in die Funktionsweise unseres Denkorgans.
Die geplanten Vorhaben sind Teil der so genannten europäischen Flaggschiffprojekte. Unter dem Namen “Human Brain Project” bewerben sie sich neben fünf anderen um einen der beiden Hauptpreise, welche die EU-Kommission für visionäre Großvorhaben ausgelobt hat. Bei diesen sollen zwei der fünf Kandidaten – verteilt auf zehn Jahre – mit je einer Milliarde Euro gefördert werden (www.spektrum.de/flaggschiffe).
Der eine im September-Heft von “Spektrum der Wissenschaft” vorgestellten Weg zum Nachbau des menschlichen Denkorgans verfolgt die Simulation von Hirnstrukturen mittels Supercomputer. Der andere strebt einen Nachbau des Gehirns mittels speziell entwickelten Computerchips an.
Wie der Protagonist der ersten Forschungsrichtung, Henry Markram von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne, in seinem Beitrag schreibt, soll damit in zehn Jahren das menschliche Gehirn vollständig simuliert werden. Der Neurologe verspricht sich damit nicht nur eine Revolution in den Neurowissenschaften, sondern auch grundlegende neue Erkenntnisse für die Computertechnik.
Anhand von Computermodellen lassen sich heute bereits einzelne Hirnfunktionen digital abbilden. So hat die Forschungsgruppe Markrams im Rahmen des Projekts Blue Brain bereits im Jahre 2008 die Arbeitsweise eines wenige Millimeter großen zylindrischen Ausschnitts der Hirnrinde einer Ratte simuliert. Damals lag die Rechenleistung der Computer noch im Bereich von Teraflops (Billionen Rechenoperation pro Sekunde), inzwischen sind bereits tausendfach schnellere Petaflop-Computer in die Rechenzentren eingezogen. Bis zum Ende des Jahrzehnts erwarten die Computerforscher den Vorstoß in den Exaflopbereich, also nochmals eine Steigerung der Rechenleistung im den Faktor Tausend. Damit, so meint der Neurowissenschaftler, werden Supercomputer so leistungsfähig sein, dass sie das gesamte menschliche Gehirn virtuell nachbilden können, indem sie sämtliche Abläufe darin von der Ebene des einzelnen Neurons bis zum gesamten Organ nachvollziehen.
Beim zweiten, in “Spektrum der Wissenschaft” beschriebenen Weg, den der Physiker Karlheinz Meier von der Universität Heidelberg beschreibt, soll das Hirn aus elektronischen Schaltkreisen nachgebaut werden. “Elektronengehirne” heutiger Bauart stellen Berechnungen zwar weit schneller an als biologische, sind aber bei kognitiven Prozessen wie der Entscheidungsfindung deutlich unterlegen. Im Rahmen bereits laufender Forschungsprojekts versuchen Neurowissenschaftler und Physiker wie Meier deshalb, mit Transistoren, Kondensatoren und Widerständen das Verhalten der Grundbausteine des Gehirns – Neurone und Synapsen – nachzuahmen. Ihre Emulationsschaltungen arbeiten bereits zehn Milliarden Mal energiesparender und eine Million Mal schneller als digitale.
Ob der Forscherehrgeiz mit den Milliarden-Fördergeldern belohnt wird, steht bis Anfang nächsten Jahres noch in den Sternen. Doch die Ziele regen zumindest jetzt schon die Fantasie an. Die Nagelprobe für das virtuelle Gehirn zum Beispiel wird kommen, wenn die Forscher es mit einem virtuellen Körper verbinden und mit einer realitätsnahen virtuellen Umgebung interagieren lassen. Das simulierte Modell eines menschlichen Hirns vermag dann Informationen aus seinem Umfeld aufzunehmen und auf sie zu reagieren. Erst in diesem Stadium können wir es mit Wissen füttern oder ihm Fertigkeiten beibringen und sehen, ob es Anzeichen echter Intelligenz entwickelt. Dann hoffen die Kunsthirnforscher auch herauszufinden, was unser Gehirn zu einem so fantastischen Organ macht. (Quelle: Spektrum der Wissenschaft, September 2012)
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