Neu entdeckte Ionenkanalfamilie gibt Fischspermien den Takt vor

Neu entdeckte Ionenkanalfamilie gibt Fischspermien den Takt vor


Teilen: 

03.06.2020 16:40

Neu entdeckte Ionenkanalfamilie gibt Fischspermien den Takt vor

Fische leben sowohl in Salz- als auch Süßwasser. Wie aber passt sich ihre Fortpflanzung an die verschiedenen Lebensräume an? Eine neue Studie von caesar-Wissenschaftlern in den “Proceedings der National Academy of Sciences” zeigt, dass die Spermien des im Süßwasser lebenden Zebrafisches über spezielle Ionenkanäle verfügen.

Die Fortpflanzung ist für Wasserorganismen eine große Herausforderung. Spermien und Eier werden ins Wasser abgegeben, die Spermien begeben sich auf den Weg zum Ei, um damit zu verschmelzen. Die Befruchtung bei wirbellosen Meerestieren, insbesondere von Seeigeln, ist gut erforscht. Es wurden mehrere Schlüsselproteine identifiziert, insbesondere Ionenkanäle und Transporter, die das Schwimmverhalten der Spermien steuern. Ganz anders jedoch bei Fischen. Fischspermien sind – je nach Lebensraum – völlig unterschiedlichen Bedingungen ausgesetzt, denn es gibt sowohl Süß-, als auch Salzwasserfische. Ist es möglich, dass das Schwimmverhalten der Spermien in beiden Lebensräumen von denselben Mechanismen gesteuert werden?

Das Problem: Für den Flagellenschlag, mit dem sich Spermien fortbewegen, ist die Aktivität von Ionenkanälen zwingend erforderlich. In Süßwasser sind aber nur wenige Ionen enthalten. Das würde bei vielen Ionenkanälen die Funktion umkehren. Auch sind einige Ionengradienten in Süßwasser – im Vergleich zu Salzwasser – genau entgegengesetzt ausgerichtet. Die Mechanismen, mit denen sich die Spermien von Salzwasserlebewesen fortbewegen, würden im Süßwasser sehr wahrscheinlich nicht funktionieren.

Literature advertisement

Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Wie können die Spermien in Süßwasser dennoch erfolgreich navigieren? Lea Wobig und Marie-Thérèse Wolfenstetter, Doktorandinnen in der Arbeitsgruppe von Prof. Kaupp, beantworten diese Frage in einer neuen Studie. Für ihre Arbeit untersuchten sie die Spermien des Zebrafisches (Abbildung 1). Ihre Vermutung: die Spermien von Süßwasserorganismen verfügen über spezielle Ionenkanäle. Die Ergebnisse ihrer Arbeit erschienen jetzt in den renommierten Proceedings der National Academy of Sciences (1).

HCN-like-Schrittmacherkanäle steuern die Fortbewegung der Spermien im Süßwasser

Spermien können, ähnlich wie Nervenzellen, elektrisch erregt werden. Spannungsgesteuerte Ionenkanäle sitzen in der Zellmembran und können Ionen in die Zelle ein- oder ausleiten. Sie öffnen oder schließen, wenn sich die Spannung über der äußeren Schicht der Zelle, der Membran, ändert. Abbildung 2 (links) zeigt die Grundarchitektur eines spannungsgesteuerten Ionenkanals. Vier Untereinheiten bilden zusammen eine zentrale Porendomäne (PD, magenta) aus, die den Durchgang von Ionen ermöglicht. Die seitlichen Domänen werden als “Spannungssensordomänen” oder VSDs (für Voltage-Sensing Domain, blau) bezeichnet. Geladene Aminosäuren in dieser Domäne „spüren“ die Membranspannung. Sie reagieren und öffnen oder schließen den Weg für die Ionen durch den Kanal.

Bei der Untersuchung von Zebrafischspermien entdeckten die Wissenschaftlerinnen eine neuartige Klasse spannungsgesteuerter Ionenkanäle, die sie als HCN-like-Kanäle bezeichnen. Diese Kanäle werden aktiviert, wenn die Membranspannung negativer wird. Das ermöglicht den Zellen, normalerweise in Verbindung mit anderen Kanälen, rhythmische Aktivität zu erzeugen, daher werden sie auch als „Schrittmacherkanäle“ bezeichnet. Sie sind den Schrittmacherkanälen im Körper des Menschen sehr ähnlich, wie sie beispielsweise im Sinusknoten des Herzens vorkommen. Schrittmacherkanäle steuern auch den rhythmischen Flagellenschlag von Seeigelspermien.

Clevere Eigenschaften passen das Ionenkanalsystem an Süßwasser an

Ein genauerer Blick auf Zebrafischspermien enthüllte eine Reihe auffälliger Merkmale, welche die neu entdeckten HCN-like 1-Kanäle besonders machen.
So leitet die „klassische“ Pore des Kanals, die PD, keine Ionen. Stattdessen passieren Ionen den Kanal über die Spannungssensordomäne (Abbildung 2, rechts). Die Forscher identifizierten innerhalb eines in der Zellmembran liegenden Segments der VSD eine Schlüsselaminosäure, Methionin, die hilft, Ionen über die Membran zu bringen.
Zweitens wird der Strom ausschließlich von positiven Teilchen, sog. Protonen, und nicht von anderen Ionen getragen. Protonen sind nur in winzigen Mengen in wässrigen Lösungen vorhanden. Protonenselektive Kanäle sind darauf spezialisiert, Protonen gegenüber anderen Ionen auszuwählen, die häufig zehn- bis hunderttausendfach häufiger vorkommen. Der neu entdeckte HCN-like 1-Kanal ist keine Ausnahme: Er bevorzugt Protonen gegenüber anderen Ionen um das 3-Millionenfache.

Die Beschränkungen üblicher HCN-Kanäle, welche in Süßwasser aufgrund der geringen Ionenzahl nicht funktionieren würden, werden durch die HCN-like 1-Kanäle geschickt ausgehebelt. Den falsch gerichteten Ionengradient in Süßwasser umgeht der Kanal, indem die hierfür übliche Pore geschlossen wird. Stattdessen wird ein Ionenweg für Protonen geschaffen, die dann die Funktion der anderen Ionen übernehmen können.

Die Forscherinnen und Forscher der Studie vermuten, dass der HCN-like 1-Kanal einem anderen Ionenkanals entgegenwirkt, der zuvor in Zebrafischspermien identifiziert wurde (2). So verhindert der Kanal, dass die Membranspannung zu negativ wird, wenn Spermien in Süßwasser freigesetzt werden. Damit hat HCN-like 1 die Funktion des verwandten „Schrittmacherkanals“ in Seeigelspermien bewahrt. Bisher findet sich die HCN-like-Unterfamilie in einer Reihe von Fischarten. Es gibt Hinweise, dass ein weiteres Mitglied der neu entdeckten Kanalfamilie in Haarzellen des Hörsystems und im Seitenliniensystem vorhanden sein könnte (3). Man darf gespannt sein, wohin die Erforschung dieser neuen Kanalfamilie führen wird.

Referenzen
(1) Wobig et al., Prog. Natl. Acad. Sci U.S.A. 2020, https://doi.org/10.1073/pnas.2001214117 (Originalpublikation)
(2) Fechner et al., elife 2015, 4, e07624
(3) Erickson et al., BMC Genomics 2015, 16, 842

Abbildungen
Abbildung 1: Zebrafischspermien. Der Zebrafisch (Danio rerio), auch als Zebrabärbling bekannt, ist ein beliebtes Tiermodell in der biomedizinischen Forschung. (Bildhinweis: MNS / caesar)

Abbildung 2: Schematischer Aufbau eines klassischen spannungsgesteuerten Ionenkanals (links) und des neuidentifizierten HCN-like 1-Kanals (rechts). In der Peripherie befinden sich die Spannungssensordomänen (VSD, blau). Die zentrale Pore (PD, magenta) leitet die Ionen in den klassischen Ionenkanälen, ist aber nichtfunktionell im HCN-like 1-Kanal. HCNlike 1 leitet stattdessen Protonen über die VSD. (Bildhinweis: MNS / caesar)


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. Reinhard Seifert
E-Mail: reinhard.seifert@caesar.de


Originalpublikation:

Wobig et al., Prog. Natl. Acad. Sci U.S.A. 2020,
https://doi.org/10.1073/pnas.2001214117


Weitere Informationen:

https://www.pnas.org/content/early/2020/05/27/2001214117 Originalpublikation


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Medizin, Meer / Klima, Tier / Land / Forst
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch


Quelle: IDW