08.06.2021 17:54
«Wir sollten den Einfluss von Reisen nicht unterschätzen»
Emma Hodcroft vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin hat mit Hilfe der von ihr mitentwickelten Sequenzierplattform Nextstrain eine neue Coronavirus-Variante (EU1) identifiziert, die sich vergangenen Sommer in Europa rasant ausgebreitet hat. Dabei spielten Ferienreisen eine wichtige Rolle. Bald sind Sommerferien: Wie können wir reisen ohne zu hohes Risiko?
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Sie haben gezeigt, wie schnell eine Virus-Variante dominant werden kann, ohne besonders ansteckend zu sein. Wie erklären Sie sich die starke Ausbreitung von EU1, das letzten Sommer in Spanien aufgetaucht ist?
Das wirklich Interessante an EU1 ist, dass wir zuerst dachten, es könnte ansteckender sein, weil wir sahen, wie seine Häufigkeit in ganz Europa anstieg. Aber je mehr wir uns damit beschäftigten, stellten wir fest, dass es einen Zusammenhang mit Reisen gab. Wir glauben, dass der eigentliche «Erfolg» von EU1 darin bestand, dass es die Ferienreisen im letzten Sommer nutzen konnte, um sich zumindest für ein paar Monate unkontrolliert in ganz Europa auszubreiten. EU1 hat also gezeigt, dass eine Variante sich rasch ausbreiten kann, ohne ansteckender sein zu müssen. Selbst jetzt, wo wir Varianten haben, die ansteckender zu sein scheinen, werden wir daran erinnert, dass wir den Einfluss von Reisen nicht unterschätzen sollten. Das sollten wir im Hinterkopf behalten bei der Entdeckung neuer Varianten.
Wie genau hat sich EU1 so schnell verbreitet, auch in der Schweiz?
In der Schweiz erreichte es seinen Höhepunkt mit einem Anteil von etwa 30 Prozent unserer Sequenzen. In der Schweiz hatten wir also eher einen Mix von Varianten. Wir gehen davon aus, dass EU1 in den meisten Ländern Europas mehrfach aus Spanien eingeschleppt wurde – so kamen wahrscheinlich viele Ferienreisende aus Spanien damit zurück. Aber dann breitete sich EU1 mit der Zeit auch in anderen Ländern Europas aus. Das heisst: selbst als Länder empfahlen, nicht mehr nach Spanien zu reisen, war EU1 zu diesem Zeitpunkt leider schon ausserhalb Spaniens. Es reiste also auch zwischen anderen europäischen Ländern hin und her.
Welche Eindämmungsstrategien sind in Bezug auf Reisen am wirksamsten?
Das ist nicht einfach, aber Tests sind ein guter Weg, um zu erkennen, ob jemand mit dem Virus zurückkommt. Am wichtigsten ist, dass es die Betroffenen selbst mitbekommen. Eine Quarantäne, die auf Vertrauen basiert, ist schwierig, wenn sich Reisende gut fühlen und denken: «Ich werde mich nicht angesteckt haben, es ist OK, wenn ich rausgehe.» Wenn aber Personen wissen, dass sie infiziert sind, ist es für sie viel einfacher zu erkennen: «Ich muss wirklich zu Hause bleiben, weil ich jemanden anstecken könnte.»
Sie waren Teil des internationalen Expertinnen- und Expertengremiums, das die aktuellen «besorgniserregenden Varianten» nach griechischen Buchstaben umbenannt hat, wie etwa «Delta» für die sogenannte «indische Variante». Warum?
Wir wollten etwas, das leicht auszusprechen ist, das man sich leicht merken kann, etwas, das den Leuten schon ein bisschen vertraut ist, das aber nicht mit einem Land assoziiert ist. Das war etwas, das wir zu vermeiden suchten: dass weiterhin von der «indischen Variante» oder der «südafrikanischen Variante» die Rede ist. Ich finde, griechische Buchstaben erfüllen viele dieser Kriterien: Sie sind einfach auszusprechen, werden weltweit in Mathematik, Physik und der Wissenschaft allgemein verwendet und lassen uns nicht denken, dass die Variante von diesem einen Ort stammt und dieser Ort schlecht ist. Wir haben andere Optionen ausprobiert, wie zum Beispiel nur Zahlen zu verwenden: Variante 1, Variante 2, … oder die Varianten so wie Stürme zu benennen, ihnen also Personennamen zu geben. Aber jeder dieser Ansätze hatte Nachteile, so dass wir uns für das griechische Alphabet entschieden.
Glauben Sie, dass die Delta-Variante auch die dominante Variante in Europa werden könnte?
Ich denke, es ist noch ein bisschen zu früh, um dazu etwas zu sagen. Was mit der Delta-Variante passiert, zeigt, was wir von EU1 gelernt haben: Im Moment sehen wir die Delta-Variante nicht oft in Kontinentaleuropa, sondern vor allem in Grossbritannien. Was dort wirklich anders ist, sind die zahlreichen starken Verbindungen zu Indien, und viele Menschen reisten von Indien nach Grossbritannien ein, bevor das Reiseverbot in Kraft trat. Genau wie bei EU1 machen Einreisen einen Unterschied. Das heisst jetzt nicht, dass die Variante nicht ansteckender ist, aber es macht es ein bisschen schwieriger vorherzusagen, ob das bei uns ähnlich sein wird oder ob wir es vielleicht – weil wir weniger Einschleppungen hatten – besser eindämmen können. Dazu brauchen wir aktuell mehr Daten.
Wir sind hier in einer komfortablen Position, aber was passiert, wenn die Delta-Variante Länder ohne Impfstoffe oder mit schlechter Infrastruktur trifft, wie Nepal oder Länder in Afrika?
Dies sollte uns wirklich beunruhigen, und wir könnten hier mehr Unterstützung leisten. Vor allem in den USA und in weiten Teilen Europas sind nun die Impfungen gut angelaufen, und es wird in den nächsten ein, zwei Monaten eine grosse Anzahl geimpfter Personen geben. Das ist fantastisch, aber so viele Länder auf der Welt sind noch weit entfernt davon und noch immer gefährdet. Ich würde gerne sehen und hören, wie mehr Regierungen anfangen, ihre Aufmerksamkeit darauf zu richten: «Okay, in unserem Land läuft es ganz gut, wie können wir jetzt andere Länder unterstützen? Wie können wir die Verfügbarkeit von Impfungen ausweiten, wie können wir Sauerstofftanks in Ländern mit Ausbrüchen zur Verfügung stellen oder Geld für Gesundheitsdienste?»
Denn die Sache ist die: Dies ist eine globale Pandemie, und wir haben gesehen, was passiert, wenn Varianten in anderen Ländern auftreten: Sie können in unser Land kommen. Unsere Schutzmassnahmen sind nicht perfekt. Und was wir definitiv nicht wollen, ist, dass eine Variante entsteht, die sich im Hintergrund durchsetzen kann. Die beste Strategie ist also, alle Länder darin zu unterstützen, ihre Fallzahlen zu kontrollieren. Denn wir werden erst dann wirklich sicher vor Sars-CoV-2 sein, wenn alle Länder in der Lage sind, ihre Fallzahlen niedrig zu halten.
Wie können Sie mit genomischer Überwachung eine Pandemie bekämpfen, wenn Sie kein globales Bild von Ausbrüchen oder neuen Varianten haben, vor allem, wenn nur sehr wenige Daten aus afrikanischen Ländern verfügbar sind?
Gute Frage – das ist ein Problem. Bei Reisebeschränkungen ist es zum Beispiel so: Wenn wir keine Sequenzen aus einem bestimmten Land haben, hat es natürlich auch keine Varianten, und die Reisefreiheit wird nicht eingeschränkt. Ich sage jetzt nicht, dass wir diese einschränken sollten, aber es zeigt, dass keine Daten zu haben nicht notwendigerweise bedeutet, dass es kein Problem gibt. Es bedeutet nur, dass wir es nicht wissen.
Was würden Sie empfehlen, wenn ich mit meiner Familie im Sommer nach Spanien oder in ein anderes Land reisen wollte, das nicht auf der Risikoliste steht?
Ich würde auf jeden Fall empfehlen, sich impfen zu lassen, und wenn es möglich ist, bis zwei Wochen nach der zweiten Dosis zu warten. Dann sollte man eine wirklich wirksame Immunität gegen Sars-CoV-2 haben. Das heisst natürlich nicht, dass Sie herumlaufen und jeden küssen sollten, den Sie treffen, aber es senkt wirklich das Risiko, sich anzustecken oder etwas einzuschleppen.
Und: Reisen Sie bewusst. Überlegen Sie sich: was möchten Sie wirklich tun, und worauf können Sie vielleicht in diesem Jahr verzichten? Vielleicht verbringen Sie mehr Zeit am Strand und weniger Zeit in einem Club. Oder Sie versuchen, in Restaurants draussen zu sitzen. Und wenn Sie irgendwo hingehen, wo es voll zu sein scheint – vielleicht sind in anderen Ländern mehr Leute in einem Raum erlaubt als in der Schweiz – können Sie immer sagen: «Das ist nichts für mich.» Es ist okay, seine Meinung zu ändern und zu sagen: «Lass uns versuchen, morgen früher zu kommen, dann ist weniger los.» Diesen Sommer ist Flexibilität etwas, das wir alle nutzen können. Wir sollten darüber nachdenken, wie wir mehr Zeit draussen verbringen können, und nicht etwas tun, nur weil wir gesagt haben, dass wir es tun, sondern weil wir das Gefühl haben, dass es sicher ist und wir uns dabei wohlfühlen.
Wie sieht es mit Ihren Plänen für den Sommer aus? Werden Sie Ihre Familie in Grossbritannien oder den USA besuchen?
Ich mache im Moment keine konkreten Pläne, bin aber hoffnungsvoll, vor allem, weil dort, wo meine Familie in Grossbritannien und den USA wohnt, die Impfung wirklich gut läuft und die Fälle im Allgemeinen eingedämmt wurden. Aber ich möchte sichergehen, dass es sicher und ratsam ist, bevor ich mich zu sehr freue. Wenn sich herausstellt, dass Abwarten das Beste ist, würde ich lieber meinen Teil zur Sicherheit beitragen, als jemanden zu gefährden. Aber ich drücke mir die Daumen!
Über Emma Hodcroft
Seit 2020 arbeitet die Bioinformatikerin Emma Hodcroft im Rahmen eines Postdoc am Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM) der Universität Bern. Die 34-Jährige studierte Biologie an der Texas Christian University, wechselte für den Master an die University of Edinburgh und absolvierte dort anschliessend ein Doktorat und ein Postdoc zur genetischen Entwicklung von HIV. Hunderte von Zeitungen weltweit berichteten über ihre Arbeit auf Nextstrain, eine Open-Source-Plattform, auf der die Entwicklung von Mutationen des Sars-CoV-2 verfolgt wird. Mit über 64’000 Followern (Stand Anfang Juni) gehört sie zu den meistbeachteten Forschenden der Schweiz auf Twitter.
Zur Autorin
Nathalie Matter arbeitet als Redaktorin bei Media Relations und ist Themenverantwortliche «Gesundheit und Medizin» in der Abteilung Kommunikation & Marketing an der Universität Bern.
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Studierende, Wissenschaftler
Medizin
überregional
Buntes aus der Wissenschaft, Forschungsergebnisse
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