26.02.2021 09:43
Seltene Erkrankung: Ataxie-Patienten langfristig Hoffnung geben
Am 28. Februar ist Tag der Seltenen Erkrankungen – Tübinger Neurologen erforschen erbliche Koordinationsstörungen und bereiten erste zielgerichtete Therapien vor
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Ein langer, steiniger Weg zur Diagnose und dann kaum Therapien oder Medikamente, die helfen können – so sieht oftmals das Leben von Patienten mit einer Seltenen Erkrankung aus. Die Erkrankungsgruppe der autosomal-rezessiven cerebellären Ataxie, kurz ARCA, gehört dazu. Nur rund drei bis sechs von 100.000 Personen leiden in Deutschland an dieser Erbkrankheit, die auf den zunehmenden Verlust von Nervenzellen im Kleinhirn beruht und sich in Koordinationsstörungen äußert. Bislang ist sie nicht heilbar. Prof. Dr. Matthis Synofzik vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und dem Universitätsklinikum Tübingen widmet sich der Erforschung dieser Erkrankungsgruppe. Erst kürzlich hat er und sein Team ein weiteres Gen entdeckt, das für ihren Ausbruch eine Rolle spielt. Das Wissen um die Krankeitsursache hilft, im nächsten Schritt zielgerichtete molekulare Therapien zu entwickeln.
Für Patienten mit einer dieser seltenen Ataxie-Erkrankungen gerät im wahrsten Sinne des Wortes die Welt ins Wanken: Sie leiden an unkoordinierte Bewegungen. Im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung können selbst einfache Bewegungen, wie Sprechen, Zähneputzen oder eine Tasse zum Mund zu führen, eine Herausforderung werden. Aufgrund eines genetischen Fehlers sterben bei ihnen Nervenzellen, die für den flüssigen Bewegungsablauf zuständig sind. Noch sind nicht alle Gene identifiziert, die zu dieser Erkrankungsgruppe führen können – es werden jedoch immer mehr aufgedeckt.
„Die genetischen Ursachen dieser speziellen Formen der Ataxie zu entschlüsseln, ist eines unsere Ziele hier in Tübingen“, erklärt Neurologe Synofzik. Erst kürzlich haben er und sein Team ein neues Gen entdecken können. Es kodiert ein Enzym mit antioxidanter Wirkung, das sich in den Kraftwerken von Nervenzellen befindet, den sogenannten Mitochondrien. Ist das Gen verändert, kann das Enzym nicht mehr in vollem Maß seine schützende Wirkung vor freien Sauerstoffradikalen entfalten. Die Nervenzelle wird immer mehr beschädigt, bis sie letztendlich zugrunde geht und stirbt.
Eine Therapieidee ist, den Fehler im Gen direkt zu reparieren. Alternativ könnte man das Enzym vor Ort ersetzen oder in seiner Wirkung unterstützen. Beide Ansätze erforscht Synofzik mit Kollegen in einem großen internationalen Verbundprojekt, das mit 1,1 Million Euro im Rahmen des European Joint Programmes on Rare Diseases gefördert wird. Rund 365.000 Euro fließen davon nach Tübingen. Der Fokus des Projekts liegt zwar auf zwei anderen genetischen Ataxie-Formen, diese gehören aber ebenfalls zur Gruppe der autosomal-rezessiven cerebellären Ataxien. Da vermutlich ähnliche Zellmechanismen betroffen sind, sind die Studienergebnisse möglicherweise auch auf andere Formen der Erkrankung übertragbar.
„Im Rahmen der Studie werden wir hier in Tübingen untersuchen, wie wir die fehlerhaften Enzyme in den Nervenzellen mithilfe von Medikamenten stabilisieren können. Bei der autosomal-resssiven Ataxie-Erkrankung ARSACS prüfen wir eine Substanz im Mausmodell, die vielversprechende Ergebnisse in der Petrischale gezeigt hat,“ berichtet Synofzik. „Bei der COQ8A-Ataxie sind wir schon viel weiter. Der Krankheitsverläuf bei diesen Patienten kann mit Coenzym Q10 im Durchschnitt um zwei Jahre verzögert werden.“ Diese Substanz ist nahezu in jedem Drogeriemarkt erhältlich. Synofzik und sein Team wollen sie nun so optimieren, dass sie das Gehirn besser erreicht und ihre Wirkung dort effektiv entfalten kann, wo die Erkrankung passiert: im Kleinhirn.
„Ziel des Verbundprojekts ist, eine ganze Werkzeugkiste an möglichen Therapien zu entwickeln und für die Untersuchung an Patienten vorbereiten,“ so Synofzik, „inklusive neuen Gentherapien“. Bis sie in klinischen Studien getestet werden können, wird es allerdings noch einige Zeit dauern. „Forschung braucht einen langem Atem. Auf lange Sicht sehen wir aber für unsere Patientinnen und Patienten einen Hoffnungsschimmer am Horizont.“
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. Matthis Synofzik
Zentrum für Neurologie und
Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
Hoppe-Seyler-Straße 3
72076 Tübingen
Telefon +49 7071 29-82060
matthis.synofzik@uni-tuebingen.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, Wissenschaftler, jedermann
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
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