Avatare für die Glioblastom-Therapie



Teilen: 

04.10.2023 12:00

Literature advertisement

Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Avatare für die Glioblastom-Therapie

Welche neuartigen Therapien am besten gegen einen aggressiven Hirntumor ankommen, wollen Forscher*innen künftig mithilfe einer neuen Plattform testen. Dafür pflanzen sie Zellen des jeweiligen Glioblastoms in Zebrafische ein, berichten die Labore von Gerhardt und De Smet in „EMBO Molecular Medicine“.

Gemeinsame Pressemitteilung – Max Delbrück Center, VIB und KU Leuven

Das Glioblastom ist ein aggressiver und schwer behandelbarer Krebs im Erwachsenenalter. Im Durchschnitt überleben die Betroffenen nur 1,5 Jahre. Die Standardbehandlung, eine Operation mit anschließender Bestrahlung und Chemotherapie, hat sich in den vergangenen 18 Jahren nicht verändert. Denn zum einen ist dieser Krebs sehr vielfältig, er unterscheidet sich von Patient*in zu Patient*in. Zum zweiten täuschen die Krebszellen den Körper; sie rekrutieren sogar Immunzellen, die Makrophagen, um dem Tumor zu helfen. Und zum dritten können die meisten Krebsmedikamente den jeweiligen Tumor nicht erreichen, weil sie nur bedingt in Hirngewebe vordringen können. Neben der Standardbehandlung probieren Onkolog*innen auch andere Medikamente aus – ohne den Glioblastom-Patient*innen sagen zu können, ob die erhoffte Wirkung wahrscheinlich ist und oft mit Nebenwirkungen verbunden.

„Diese Patientinnen und Patienten brauchen dringend neue Therapien“, sagt Professor Holger Gerhardt, einer der Letztautoren der Studie und stellvertretender Wissenschaftlicher Vorstand des Max Delbrück Centers in Berlin. „Es ist sehr wichtig, die Betroffenen zu identifizieren, bei denen eine bestimmte Behandlung anschlägt und jene, denen sie nicht helfen wird.“

Lise Finotto, Erstautorin und Krebsforscherin am VIB-KU Leuven Center for Cancer Biology in Belgien und zuvor am Max Delbrück Center, sowie ihre Kooperationspartner Gerhardt und Professor Frederik De Smet von der KU Leuven haben jetzt eine neue Screening-Plattform etabliert. Wenn man sie etwas weiterentwickelt, könnte man mit ihrer Hilfe neuartige Zielstrukturen für Wirkstoffe gegen das Glioblastom finden. Außerdem könnte man prüfen, ob ein bestimmter Patient oder eine bestimmte Patientin auf die geplante Therapie ansprechen wird. Die Studie ist im Fachmagazin „EMBO Molecular Medicine“ erschienen.

Um das Zusammenspiel von Glioblastom-Zellen und Makrophagen bei verschiedenen Patient*innen zu verstehen, haben die Forscher*innen Zebrafisch-„Avatare“ geschaffen. Die Arbeitsgruppe von Holger Gerhardt arbeitet oft mit Zebrafischen. Denn diese drei Zentimeter langen Fische gelten als guter Modell-Organismus. Schließlich sind ihre Embryonen durchsichtig; man kann also problemlos beobachten, was in ihren Körpern passiert.

Unerwartet lange überlebt

Finotto hat Stammzellen von sieben Patient*innen untersucht, die in einer Biobank der KU Leuven erfasst sind. Die Arbeitsgruppe von De Smet baut diese Biobank mit Glioblastom-Gewebeproben gerade auf. Finotto hat die Stammzellen in Zebrafisch-Embryonen injiziert und mit diesen Xenotransplantaten quasi Avatare für den Tumor jede*r einzelne*n Patient*in geschaffen. Anschließend beobachtete sie die lebenden Zebrafisch-Embryonen mithilfe der Video-Fluoreszenzmikroskopie: Die Glioblastom-Zellen passten sich schnell an ihre neue Umgebung an. Das Immunsystem der Zebrafische schickte zwar Makrophagen zum Tumor, um den Krebs zu kontrollieren. Aber sie wurden ausgebremst, so wie es für das Glioblastom typisch ist. Die Tumoren nutzen zudem mehrere Mechanismen, um die Makrophagen umzuprogrammieren – und sie für das eigene Wachstum einzusetzen.

„Wir wollten wissen, wie man die Makrophagen dazu bringen kann, den Tumor wieder anzugreifen“, sagt Finotto. Ein möglicher Anhaltspunkt: Der Tumor eines Patienten konnte die normale Reaktion der Makrophagen nicht unterdrücken.

„Als wir uns die Krankengeschichte genauer anschauten, entdeckten wir, dass es sich um einen Langzeit-Überlebenden handelt“, sagt De Smet von der KU Leuven. „So bezeichnet man Glioblastom-Patient*innen, die mehr als fünf Jahre überleben. Das ist bei diesem Hirntumor ausgesprochen selten.“

Eine Test-Plattform

Das Interesse an dem Patienten sei die treibende Kraft hinter dem Projekt gewesen, sagt Finotto. Das Team kultivierte Tumorzellen und Makrophagen zusammen in der Petrischale. Dank der Einzelzell-Sequenzierung sahen sie, dass ein Gen namens LGALS1 im Tumor des Langzeit-Überlebenden im Vergleich zu den anderen Patient*innen weniger oft abgelesen wurde. Vorherige Studien hatten ebenfalls gezeigt, dass das Abschalten von LGALS1 in Glioblastom-Zellen zu einem längeren Überleben führen kann.

Die Wissenschaftler*innen bestätigten das Ergebnis: Sie schalteten das Gen in der Probe eines anderen Patienten aus und konnten bei den Zebrafischen beobachten, das der Tumor dadurch weniger aggressiv war.

Die Plattform eignet sich dafür, neben LGALS1 andere geeignete Ziele für die Glioblastom-Therapie zu identifizieren, sagt Finotto. Entwickelt man die Plattform weiter, könnten die Zebrafisch-Avatare zeigen, welche Behandlung erfolgversprechend ist. Denn Forscher*innen könnten analysieren, wie die Tumorzellen eines bestimmten Patienten oder einer bestimmten Patientin auf diverse Medikamente reagieren und genau die aussuchen, die den Tumor verkleinern, sagt Gerhardt.

„Mit diesen Ergebnissen könnten wir den Onkolog*innen helfen, eine fundiertere Therapieentscheidung für ihre Patient*innen zu treffen“, sagt De Smet.

Max Delbrück Center

Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (Max Delbrück Center) gehört zu den international führenden biomedizinischen Forschungszentren. Nobelpreisträger Max Delbrück, geboren in Berlin, war ein Begründer der Molekularbiologie. An den Standorten in Berlin-Buch und Mitte analysieren Forscher*innen aus rund 70 Ländern das System Mensch – die Grundlagen des Lebens von seinen kleinsten Bausteinen bis zu organ-übergreifenden Mechanismen. Wenn man versteht, was das dynamische Gleichgewicht in der Zelle, einem Organ oder im ganzen Körper steuert oder stört, kann man Krankheiten vorbeugen, sie früh diagnostizieren und mit passgenauen Therapien stoppen. Die Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen rasch Patient*innen zugutekommen. Das Max Delbrück Center fördert daher Ausgründungen und kooperiert in Netzwerken. Besonders eng sind die Partnerschaften mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin im gemeinsamen Experimental and Clinical Research Center (ECRC) und dem Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité sowie dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK). Am Max Delbrück Center arbeiten 1800 Menschen. Finanziert wird das 1992 gegründete Max Delbrück Center zu 90 Prozent vom Bund und zu 10 Prozent vom Land Berlin. www.mdc-berlin.de

VIB

Die Kernaufgabe des VIB liegt darin, wegweisende Erkenntnisse über die molekularen Grundlagen des Lebens zu erarbeiten und diese in sinnvolle Innovationen für Patient*innen und die Gesellschaft umzusetzen. Das VIB ist ein unabhängiges Forschungsinstitut, in dem rund 1.800 Spitzenwissenschaftler aus Belgien und dem Ausland wegweisende Grundlagenforschung betreiben. Sie verschieben die Grenzen dessen, was wir über molekulare Mechanismen wissen und wie diese Organismen wie Menschen, Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen steuern. Auf der Grundlage einer engen Partnerschaft mit fünf flämischen Universitäten – der Universität Gent, der KU Leuven, der Universität Antwerpen, der Freien Universität Brüssel und der Universität Hasselt – und unterstützt durch ein solides Förderprogramm, vereint das VIB das Fachwissen aller seiner Mitarbeiter*innen und Forschungsgruppen in einem einzigen Institut. Der Technologietransfer des VIB setzt Forschungsergebnisse in konkreten Nutzen für die Gesellschaft um, etwa in Form neuer Diagnostika und Therapien oder Innovationen in der Landwirtschaft. In jungen Start-ups, die aus dem VIB ausgegründet wurden, oder in Kooperationen mit anderen Unternehmen, werden diese Anwendungen oft weiterentwickelt. Das schafft nicht zuletzt Arbeitsplätze und überbrückt die Kluft zwischen wissenschaftlicher Forschung und unternehmerischem Denken. Das VIB beteiligt sich aktiv an der öffentlichen Debatte über Biotechnologie, indem es ein breites Spektrum an wissenschaftlich fundiertem Informationsmaterial entwickelt und verbreitet. Weitere Informationen: www.vib.be.

KU Leuven

Die KU Leuven ist die innovativste Universität Europas (Reuters) und belegt in der Times Higher Education World University Rankings Platz 42. Als größte belgische Universität begrüßt die KU Leuven 65.000 Studierende aus über 140 Ländern. Ihre 8.000 Forscher widmen sich einem breiten Spektrum von Disziplinen. Die KU Leuven ist Gründungsmitglied der League of European Research Universities (LERU) und hat eine starke europäische und internationale Ausrichtung. Die Universitätskliniken Leuven bieten eine hochwertige Gesundheitsversorgung. Dieses Netzwerk von Forschungskrankenhäusern entwickeln neue therapeutische und diagnostische Erkenntnisse mit Schwerpunkt auf der translationalen Forschung.


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Holger Gerhardt
Leiter der Arbeitsgruppe „Integrative vaskuläre Biologie“
Stellvertretender Wissenschaftlicher Vorstand
Max Delbrück Center
+49 (0)30 450 540 701
Holger.Gerhardt@mdc-berlin.de

Prof. Frederik De Smet
Leiter der Arbeitsgruppe „Präzisionskrebsmedizin“
Translationale Zell- und Gewebeforschung, Abt. für Bildgebung und Pathologie
KU Leuven, Belgien
+32 (0)16 372 575
frederik.desmet@kuleuven.be


Originalpublikation:

Lise Finotto et al. (2023): „Single-cell profiling and zebrafish avatars reveal LGALS1 as immunomodulating target in glioblastoma.“ EMBO Molecular Medicine, DOI: 10.15252/emmm.202318144


Weitere Informationen:

https://www.mdc-berlin.de/de/gerhardt – AG Gerhardt
https://www.lpcm.be – AG De Smeet
https://www.lpcm.be/leuven-living-tissue-bank – Leuven Living Tissue Lab
https://ccb.sites.vib.be/en#/ – VIB-KU Leuven Center for Cancer Biology


Bilder

Gehirnregion eines Zebrafisch-Avatars, in dem ein menschliches Glioblastom wächst: Die Tumorzellen von Patient*innen sind grün markiert, das Netzwerk der Blutgefäße gelb und die Makrophagen (Immunzellen) rot.

Gehirnregion eines Zebrafisch-Avatars, in dem ein menschliches Glioblastom wächst: Die Tumorzellen v
Lise Finotto, VIB – KU Leuven
Lise Finotto, VIB – KU Leuven


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Kooperationen
Deutsch


 

Quelle: IDW