Das Geheimnis der Muskelzelle



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11.12.2020 11:00

Das Geheimnis der Muskelzelle

Eine Muskelfaser besteht aus nur einer Zelle, hat aber ganz viele Kerne. Wie sehr sich diese voneinander unterscheiden, hat ein MDC-Team um Professorin Carmen Birchmeier gezeigt. Die Studie in „Nature Communications“ kann unter anderem helfen, Muskelerkrankungen wie die Duchenne-Dystrophie besser zu verstehen.

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

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Gewöhnlich besitzt jede Zelle genau einen Kern. Nicht so die Muskelzellen unserer Skelettmuskeln: In einem vergleichsweise riesigen Zytoplasma enthalten diese langen, faserigen Zellen Hunderte von Kernen. Inwieweit sich die Kerne einer einzelnen Muskelfaser hinsichtlich ihrer Genaktivität voneinander unterscheiden und welche Auswirkungen das auf die Funktion des Muskels hat, war bislang kaum bekannt.

Ein Team um Professorin Carmen Birchmeier, die Leiterin der Arbeitsgruppe „Entwicklungsbiologie / Signaltransduktion in Nerven und Muskelzellen“ am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) hat den Kernen der Muskelzelle jetzt einige ihrer Geheimnisse entlockt. Wie die Forscherinnen und Forscher im Fachblatt „Nature Communications“ berichten, haben sie die Genexpression dieser Zellkerne mit einem noch recht neuen Verfahren namens Einzelkern-RNA-Sequenzierung untersucht – und sind dabei auf eine unerwartet hohe Vielfalt genetischer Aktivität gestoßen.

Die Muskelfaser ähnelt einem ganzen Gewebe

„Eine einzelne Muskelzelle kann durch die Heterogenität ihrer Kerne fast wie ein Gewebe, das aus ganz unterschiedlichen Zelltypen besteht, agieren – und so ihren zahlreichen Aufgaben wie der Kommunikation mit Nervenzellen oder der Produktion von bestimmten Muskeleiweißen nachkommen“, erläutert einer der beiden Erstautoren der Studie, Dr. Minchul Kim, Postdoktorand in Birchmeiers Team. Kim hat die meisten experimentellen Arbeiten der Studie übernommen.

Ausgewertet wurden seine Daten ebenfalls am MDC: Die bioinformatischen Analysen haben Dr. Altuna Akalin, der Leiter der „Bioinformatics and Omics Data Science Platform“ am Berlin Institute of Medical Systems Biology (BIMSB) des MDC, und der zweite Erstautor der Studie, Dr. Vedran Franke, Postdoktorand in Akalins Team, vorgenommen. „Nur durch den permanenten Austausch zwischen den beiden experimentell und theoretisch arbeitenden Teams konnten wir zu unseren Ergebnissen und zu der auch für die Erforschung von Muskelkrankheiten wichtigen Studie kommen“, betont Birchmeier. „Neue Technologien in der Molekularbiologie wie die Einzelkern-Sequenzierung erzeugen große Datenmengen“, ergänzt Akalin. Es sei ganz zentral, bioinformatische Labore von Anfang an in den Forschungsprozess einzubeziehen. „Denn die Analyse der Daten ist genauso wichtig wie ihre Erhebung.“

Im verletzten Muskel sind Gene aktiv, die ihn wachsen lassen

Untersucht haben die Forscherinnen und Forscher zunächst die Genexpression von mehreren tausend Kernen aus gewöhnlichen Muskelfasern von Mäusen sowie von Kernen aus Muskelfasern, die sich nach einer Verletzung regenerierten. Dazu hat das Team die Kerne zunächst genetisch markiert und aus den Zellen isoliert. „Wir wollten herausfinden, ob sich die Genaktivität zwischen dem ruhenden und dem wachsenden Muskel unterscheidet“, sagt Birchmeier.

Tatsächlich fanden sie und ihr Team solche Unterschiede. Zum Beispiel konnten die Forscherinnen und Forscher beobachten, dass im sich regenerierenden Muskel erwartungsgemäß mehr Gene aktiv sind, die das Muskelwachstum anstoßen. „Was uns aber wirklich erstaunt hat, war die Tatsache, dass in beiden Sorten von Muskelfasern sehr viele unterschiedliche Typen von Kernen mit jeweils ganz eigenen Mustern der Genaktivität existieren“, sagt Birchmeier.

Das Team stieß auch auf bisher unbekannte Kerntypen

Schon vor der Studie war bekannt, dass in Kernen, die sich in der Nähe einer Nervenfaser und ihren Synapsen befinden, andere Gene aktiv sind als in den restlichen Kernen. „Wir haben nun jedoch viele neue Arten spezialisierter Kerne entdeckt, die alle ganz bestimmte Genexpressionsmuster aufweisen“, berichtet Kim. Einige dieser Kerne befinden sich gehäuft nahe zu anderen Zellen, die an die Muskelfaser angrenzen: zum Beispiel Zellen der Sehne oder des Perimysiums, einer Bindegewebshülle, die mehrere Muskelfasern in einem Bündel zusammenfasst.

„Andere spezialisierte Kerne steuern anscheinend den lokalen Metabolismus oder die Proteinsynthese und sind in der Muskelfaser verteilt“, sagt Kim. Was genau die in den Kernen aktiven Gene jeweils bewirken, ist allerdings noch nicht ganz klar. „Wir sind auf hunderte Gene gestoßen, die offenbar in bislang völlig unbekannten kleinen Gruppen von Kernen in der Muskelfaser angeschaltet werden“, berichtet Birchmeier.

Bei Muskelschwund gehen offenbar viele Kerntypen verloren

In einem nächsten Schritt untersuchte das Team die Kerne aus Muskelfasern von Mäusen mit Duchenne-Dystrophie. Diese Erkrankung ist die häufigste Form des erblichen Muskelschwunds beim Menschen. Hervorgerufen wird sie durch eine Mutation auf dem X-Chromosom, weshalb vor allem Jungen von ihr betroffen sind. Den Patienten fehlt das Protein Dystrophin, das die Muskelfasern stabilisiert. Dadurch sterben die Zellen nach und nach ab.

„In den Muskelfasern unseres Mausmodells war ein Verlust vieler Zellkerntypen zu beobachten“, berichtet Birchmeier. Andere Typen waren nicht mehr in Clustern organisiert, wie es das Team zuvor gesehen hatte, sondern über die ganze Zelle verstreut. „Als ich das sah, konnte ich es zunächst gar nicht glauben“, erzählt die Forscherin. „Ich habe mein Team gebeten, die Einzelkern-Sequenzierungen sofort zu wiederholen, bevor wir diesen Befund weiter untersuchen.“ Doch die Ergebnisse blieben gleich.

Die Kerne der Mäuse ähneln denen menschlicher Patienten

„Darüber hinaus fanden wir krankheitsspezifische Subtypen von Zellkernen“, berichtet Birchmeier. Dabei handelt es sich zum einen um Kerne, die Gene nur noch in geringem Umfang ablesen und gerade absterben. In anderen Kernen sind jene Gene besonders aktiv, die beschädigte Muskelfasern reparieren. „Interessanterweise konnten wir solche vermehrten Genaktivitäten auch in Muskelbiopsien von Patienten mit Muskelerkrankungen beobachten, die uns die MDC-Arbeitsgruppe „Myologie“ von Professorin Simone Spuler zur Verfügung gestellt hat“, sagt Birchmeier. „Offenbar versucht der Muskel, auf diese Weise den krankheitsbedingten Schäden entgegenzusteuern.“

„Mit unserer Studie präsentieren wir eine leistungsfähige Methode, um pathologische Mechanismen im Muskel zu untersuchen und den Erfolg neuer Therapieansätze zu überprüfen“, lautet das Fazit von Birchmeier. Da Funktionsstörungen des Muskels auch bei vielen anderen Krankheiten wie beispielsweise Diabetes sowie beim alters- und krebsbedingten Muskelschwund zu beobachten sind, lässt sich der Ansatz zudem dazu nutzen, auch derartige Veränderungen besser zu erforschen. „Weitere Studien mit anderen Krankheitsmodellen“, kündigt Kim an, „sind bei uns bereits in Planung.“

Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin

Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) wurde 1992 in Berlin gegründet. Benannt ist es nach dem deutsch-amerikanischen Biophysiker Max Delbrück, der 1969 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielt. Aufgabe des MDC ist die Erforschung molekularer Mechanismen, um Krankheitsursachen auf den Grund zu gehen und damit eine bessere und wirksamere Krankheitsdiagnose, -prävention und -behandlung zu ermöglichen. An dieser Zielsetzung arbeitet das MDC gemeinsam mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin und dem Berlin Institute of Health (BIH). Darüber hinaus besteht eine Kooperation mit weiteren nationalen Partnern wie dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung und mit zahlreichen internationalen Forschungseinrichtungen. Am MDC sind über 1.600 Mitarbeiter*innen und Gäste aus fast 60 Ländern tätig, davon knapp 1.300 in der wissenschaftlichen Forschung. Finanziert wird das MDC zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Berlin. Es ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren. www.mdc-berlin.de


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Carmen Birchmeier
Leiterin des Labors “Entwicklungsbiologie / Signaltransduktion in Nerven und Muskelzellen”
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC)
c.birch@mdc-berlin.de


Originalpublikation:

Minchul Kim, Vedran Franke et al. (2020): „Single-nucleus transcriptomics reveals functional compartmentalization in syncytial skeletal muscle cells“. In Nature Communications, DOI: 10.1038/s41467-020-20064-9.


Weitere Informationen:

https://www.mdc-berlin.de/de/c-birchmeier – Arbeitsgruppe von Carmen Birchmeier „Entwicklungsbiologie / Signaltransduktion in Nerven und Muskelzellen“
https://www.mdc-berlin.de/bioinformatics – Technologieplattform von Altuna Akalin „Bioinformatics and Omics Data Science“


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Informationstechnik, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
Deutsch


Quelle: IDW