15.05.2020 05:00
Mäuseherzen als Schlüssel für bessere Heilungschancen in der Humanmedizin
Forscherteam aus MV kann erstmals Zellstrukturen des Herzens vollständig darstellen
Einem interdisziplinären Forscherteam, bestehend aus Wissenschaftlern des Leibniz-Institutes für Nutztierbiologie (FBN) in Dummerstorf und der Universität Rostock, ist es gelungen, die Zellpopulationen und insbesondere die Subpopulationen im Herzen erwachsener Mäuse vollständig zu entschlüsseln und auch die Dynamiken der einzelnen Zellgruppen aufzuzeigen.
„Dabei wurde auch eine Gruppe von Gefäßwandzellen entdeckt, die Eigenschaften von Herzmuskelzellen aufweisen. Da Herzmuskelzellen sich im Allgemeinen nicht mehr teilen können, weshalb es nach einem Infarkt zu bleibenden Schäden kommt, wäre die Entdeckung einer Quelle zur Bildung neuer Herzmuskelzellen vor allem für die regernative Herzmedizin von besonderer Bedeutung“, betonte Dr. Anne-Marie Galow vom Institut für Genombiologie am FBN. Um die zelluläre Zusammensetzung eines kompletten Organs zu erfassen, wurden erstmalig tausende Zellkerne aus dem Herzen ausgewachsener Mäuse sequenziert, bioinformatisch analysiert und so bestimmten Zellpopulationen zugeordnet.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Der Forschungserfolg wurde im Rahmen des Verbundforschungsvorhabens „Programmierte Herzschrittmacherzellen zur in vitro Medikamententestung (iRhythmics)“ erzielt und Anfang des Jahres in „Cells“, einer internationalen Open-Access-Zeitschrift für Zellbiologie, Molekularbiologie und Biophysik veröffentlicht*. Erstautoren sind Dr. Anne-Marie Galow (FBN) sowie Paula Müller (Klinik für Herzmedizin, Universitätsmedizin Rostock) und Markus Wolfien (Lehrstuhl für Systembiologie und Informatik, Universität Rostock).
Das Projekt, das von der EU und der Landesregierung MV mit rund zwei Millionen Euro gefördert wird, läuft seit Oktober 2018. Beteiligt ist unter Federführung der Universitätsmedizin und Universität Rostock (Prof. Dr. Robert David) neben dem Institut für Genombiologie am FBN in Dummerstorf die Universitätsmedizin Greifswald. Ziel des Projektes der Landesexzellenzforschung ist es, aus unreifen Herzmuskel-Vorläuferzellen schlagende Herzmuskelzellen, sogenannte „programmierte Herzschrittmacherzellen“ herzustellen. Diese bieten die Möglichkeit, neuartige Medikamententests für Herz- und Kreislauferkrankungen in der Petrischale und ohne Tierversuche durchzuführen. Das FBN ist in dem Gemeinschaftsprojekt für die umfassenden Genexpressionsanalysen der programmierten Schrittmacherzellen und die Auswertung der Daten zuständig.
Neue Erkenntnisse über die Dynamik und Vernetzung von Herzzellen
Die zelluläre Zusammensetzung einiger anderer Organe konnte bereits zuvor erfasst werden. „Das Herz stellte jedoch eine besondere Herausforderung dar, weil die Herzmuskelzellen aufgrund ihrer Größe, Länge und Form nicht mit den Standard-Systemen bearbeitet werden konnten“, erläuterte Dr. Anne-Marie Galow. „Aus diesem Grund haben wir einen alternativen Ansatz gewählt, der zuvor nur in der Neurologie beschrieben wurde. Nervenzellen können ebenfalls sehr groß werden und sind dazu noch verzweigt. Mit der noch sehr neuen Methodik der Einzelkernsequenzierung haben wir ganze erwachsene Säugetierherzen untersucht und 24 verschiedene Zellcluster identifiziert. Analysen auf zellulärer Ebene sind unabdingbar, um unser Verständnis komplexer Gewebe wie des Säugetierherzens zu erweitern“, so die Humanbiologin.
Die Aufklärung der zellulären Zusammensetzung der einzelnen Organe und das Anlegen von Zellmarkerprofilen der einzelnen Zelltypen ist aufwändige Pionierarbeit in der Grundlagenforschung. Die gewonnenen Daten liefern der Wissenschaft jedoch wertvolle neue Erkenntnisse über die Dynamik und Vernetzung von Herzzellen und helfen, bestimmte molekularbiologische Prozesse besser zu verstehen.
Insbesondere die Ergebnisse zu den erstmals spezifizierten Gefäßwandzellen sind vielversprechend für eine künftige Anwendung in der regenerativen Herzmedizin, zur Wiederherstellung von durch Krankheit oder Unfall geschädigten kardiologischen Zellen, Geweben und Organen. „Auf lange Sicht kann die Sequenzierung auf Einzelzellebene genutzt werden, um krankhafte Veränderungen in Organen bestimmten Zellpopulationen zuzuordnen und so in Zukunft gezieltere Therapieansätze zu ermöglichen“, so die Wissenschaftlerin.
In einem weiteren Schritt sind nun entsprechende Analysen mit Schweineherzen geplant. Diese ähneln dem menschlichen Herzen weitaus stärker. Zudem haben sie als potenzielle Quelle für Xenotransplantate in den letzten Jahrzehnten in der Herz-Kreislauf-Forschung zunehmend an Bedeutung gewonnen.
Fotos FBN/Ronald Brunner:
Mit Hilfe von Genexpressionsanalysen konnten Dr. Anne-Marie Galow und Dr. Ronald Brunner sowie ihre Wissenschaftskollegen erstmals die Zellstrukturen von Mäuseherzen vollständig erfassen. Als Modell diente die Dummerstorfer Mauslinie (Foto: FBN/nordlicht).
*Originalpublikation
Single-Nucleus Sequencing of an Entire Mammalian Heart: Cell Type Composition and Velocity
Cells 2020, 9(2), 318; https://doi.org/10.3390/cells9020318, Published: 28 January 2020
http://www.mdpi.com/2073-4409/9/2/318
Die Leibniz-Gemeinschaft
Die Leibniz-Gemeinschaft verbindet 93 selbständige Forschungseinrichtungen. Ihre Ausrichtung reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Raum- und Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften. Leibniz-Institute widmen sich gesellschaftlich, ökonomisch und ökologisch relevanten Fragen. Sie betreiben erkenntnis- und anwendungsorientierte Forschung, auch in den übergreifenden Leibniz-Forschungsverbünden, sind oder unterhalten wissenschaftliche Infrastrukturen und bieten forschungsbasierte Dienstleistungen an. Die Leibniz-Gemeinschaft setzt Schwerpunkte im Wissenstransfer, vor allem mit den Leibniz-Forschungsmuseen. Sie berät und informiert Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Leibniz-Einrichtungen pflegen enge Kooperationen mit den Hochschulen – u.a. in Form der Leibniz-WissenschaftsCampi, mit der Industrie und anderen Partnern im In- und Ausland. Sie unterliegen einem transparenten und unabhängigen Begutachtungsverfahren. Aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung fördern Bund und Länder die Institute der Leibniz-Gemeinschaft gemeinsam. Die Leibniz-Institute beschäftigen rund 19.100 Personen, darunter 9.900 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Der Gesamtetat der Institute liegt bei mehr als 1,9 Milliarden Euro.
http://www.leibniz-gemeinschaft.de
Leibniz-Institut für Nutztierbiologie (FBN)
Wilhelm-Stahl-Allee 2, 18196 Dummerstorf
Vorstand: Prof. Dr. Klaus Wimmers
T +49 38208-68 600
E wimmers@fbn-dummerstorf.de
Institut für Genombiologie
Leitung: Prof. Dr. Christa Kühn
T +49 38208-68 700
E kuehn@fbn-dummerstorf.de
Dr. Anne-Marie Galow
T +49 38208-68 723
E galow@fbn-dummerstorf.de
Wissenschaftsorganisation Dr. Norbert K. Borowy
T +49 38208-68 605
E borowy@fbn-dummerstorf.de
http://www.fbn-dummerstorf.de
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Dr. Anne-Marie Galow
T +49 38208-68 723
E galow@fbn-dummerstorf.de
Originalpublikation:
Single-Nucleus Sequencing of an Entire Mammalian Heart: Cell Type Composition and Velocity
Cells 2020, 9(2), 318; https://doi.org/10.3390/cells9020318, Published: 28 January 2020
www.mdpi.com/2073-4409/9/2/318
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Medizin, Tier / Land / Forst
überregional
Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
Deutsch