03.07.2020 08:00
Entscheidungen treffen: Mit Höchstleistung gegen alte Gewohnheiten
Eine neue Studie des Leibniz-Instituts für Neurobiologie Magdeburg (LIN) zeigt, wie unterschiedlich stark das Gehirn beim Lösen einfacher und schwerer Aufgaben arbeitet. Das Magdeburger Forscherteam um PD Dr. Max Happel und Marina Zempeltzi aus der LIN-Arbeitsgruppe CortXplorer hat entdeckt, dass Nervenzellen von Wüstenrennmäusen verstärkt aktiviert werden, wenn alte Gewohnheiten verworfen werden müssen. Die Studie ist in der aktuellen Ausgabe von „Communications Biology“ aus dem Springer Nature Verlag erschienen.
Während Corona haben viele erfahren, wie sehr Gewohnheiten unseren Alltag bestimmen.„Gerade wenn sich bestehende Regeln ändern, wie in der jetzigen Zeit, merken wir, wie anstrengend es ist alte Verhaltensweisen abzulegen“, sagt PD Dr. Max Happel, Leiter der Studie am Leibniz-Institut für Neurobiologie (LIN). Die LIN-Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben im Tiermodell untersucht, wie Wüstenrennmäuse erst eine einfache Aufgabe erlernen und dann durch das Erschweren der Regel umlernen müssen. Das Forscherteam fand mittels räumlich hoch aufgelöster Messung von vielen tausend Nervenzellen in der Großhirnrinde heraus, dass diese während des Umlernens der Regel deutlich stärker aktiv waren.
Zunächst lernten die Tiere als Reaktion auf zwei unterschiedliche Töne jeweils die Seite einer zweigeteilten Kammer zu wechseln. Nach erfolgreichem Erlernen wurde die Regel geändert: nun signalisierte nur noch einer der beiden Töne einen Seitenwechsel, während der andere Ton, entgegen der vorherigen Regel, zum Sitzenbleiben zwang. Zu übersetzen ist das in etwa so: zunächst lernt man eine Straße unabhängig der Ampelfarbe zu überqueren, während in der zweiten Phase wichtig ist, ob diese auf ‚rot‘ oder ‚grün‘ steht. Zudem konnten die Forscher mittels statistischer Verfahren bereits Sekunden vor der Entscheidung der Wüstenrennmaus aus den Aktivitätsmustern der Nervenzellen vorhersagen, wie diese ausfallen würde.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Lernen unter Unsicherheit bedarf verstärkter Hirnaktivität
„Wenn sich bekannte Regeln ändern, werden unsere Entscheidungen unsicher“, erläutert Marina Zempeltzi, Erstautorin der Studie. „Jetzt arbeitet unser Gehirn auf Hochtouren, um eine neue Regel zu finden, nach der wir unser zukünftiges Verhalten ausrichten können“. Eine solche Anpassung des eigenen Verhaltens ist kognitiv anstrengend und bedarf entsprechender Ressourcen. Erst wenn sich erneut eine Routine einstellt, reduziert sich die Hirnaktivität wieder. So haben sich jüngst viele an den Alltag zu Hause gewöhnt, der zu Beginn des Lockdowns noch als anstrengender empfunden wurden.
Ob sich die neu entwickelten Ansätze der Vorhersagbarkeit von Entscheidungen aus der Hirnaktivität auf Messungen am Menschen übertragen lassen, ist Bestandteil weiterer Forschung. „Wir können die Hirnmuster vor einer Entscheidung mit unseren Methoden bis auf Ebene einzelner Zellpopulationen beschreiben. Wir arbeiten bereits mit Kollegen daran, diese Modelle auf menschliche Hirnsignale anzuwenden. Natürlich ist dies noch ein langer, spannender Weg“, resümiert Dr. Happel.
Leibniz-Institut für Neurobiologie (LIN) Magdeburg
Das LIN ist ein Grundlagenforschungsinstitut, das sich Lern- und Gedächtnisprozessen im Gehirn widmet. Das LIN wurde 1992 als Nachfolgeeinrichtung des Institutes für Neurobiologie und Hirnforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR gegründet und ist seit 2011 Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Es bildet einen der Eckpfeiler des Neurowissenschaftsstandortes Magdeburg. Das LIN beherbergt moderne Labore für die neurowissenschaftliche Forschung – vom Hightech-Mikroskop bis zum Kernspintomographen.
Aktuell arbeiten rund 230 Personen am LIN, davon ungefähr 150 Wissenschaftler aus über 28 Ländern. Sie erforschen kognitive Prozesse und deren krankhafte Störungen im Gehirn von Mensch und Tier.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Dr. Max Happel
Originalpublikation:
doi: 10.1038/s42003-020-1073-3
Weitere Informationen:
https://www.lin-magdeburg.de/forschung/abteilung-systemphysiologie-des-lernens/a…
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Medizin
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
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