30.06.2020 16:58
Wie Präzisionsmedizin bei einer seltenen Hormonerkrankung hilft
Dank «Next Generation Sequencing» können Milliarden von Genen gleichzeitig untersucht werden. Forschende der Universität Bern und vom Inselspital, Universitätsspital Bern konnten nun dank dieser zukunftsweisenden Methode eine Genmutation identifizieren, die zu einer seltenen Hormonerkrankung führt. Dies ist ein Beispiel dafür, wie dank Präzisionsmedizin künftig massgeschneiderte Therapien entwickelt und Nebenwirkungen vermieden werden können.
Ein internationales Team von Forschenden unter der Leitung von Amit Pandey und Christa Flück vom Department for BioMedical Research (DBMR) der Universität Bern und Abteilung für pädiatrische Endokrinologie der Universitätskinderklinik Bern hat die genetischen Ursachen des Aromatasemangels untersucht, einer seltenen Stoffwechselstörung. Diese angeborene Erkrankung verhindert die Produktion von Östrogenen (das Enzym Aromatase ermöglicht die Östrogenproduktion im Körper. Bei Mädchen führt ein Aromatasemangel schon bei den Föten zu einer Vermännlichung und später zu fehlender Pubertätsentwicklung. Bei Knaben kann es unter anderem zu einem Grosswuchs wegen fehlendem Wachstumsstop kommen. Die Ursache dafür ist ein Defekt beim Gen, welches das Aromatase-Enzym bildet.
Die Forschenden identifizierten einen bisher unbekannten Mechanismus, der dazu führt, dass kein Östrogen produziert werden kann – auch wenn das zuständige Aromatase-Enzym vorhanden ist. Die Ergebnisse basieren auf einer Zusammenarbeit der Berner Gruppe mit spanischen Forschenden und wurden nun im Journal «The Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism» (JCEM) publiziert. Diese Publikation ist die aktuellste aus der Gruppe um Amit Pandey, die dank ihrem präzisionsmedizinischen Ansatz und ihrer internationalen Vernetzung mehrere Durchbrüche auf dem Gebiet von Erkrankungen im Bereich der Sexualhormone erzielen konnte, unter anderem wie es zu einer Vermännlichung von Föten im Mutterleib kommt.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Ein Puzzle wird zusammengefügt
«Ein Aromatasemangel kann mit einer Hormonersatztherapie behandelt werden. Diese Therapie weist jedoch Nebenwirkungen auf. Deshalb wollten wir wissen, welcher Teil des genetischen Codes bei den Patientinnen und Patienten verändert war, um für künftige Therapien gezielt am richtigen Ort anzusetzen», sagt Amit Pandey. «Die moderne DNA-Sequenzierung half uns dabei.» Pandey war von spanischen Genetikerinnen und Genetikern auf einen besonderen Fall aufmerksam gemacht worden: Eine Patientin wies Symptome eines Aromatasemangels auf, aber bei der Sequenzierung des für die Aromatase zuständigen Gens konnten keine Defekte gefunden werden. Durch den Einsatz der «Next Generation Sequencing» Technologie, die gleichzeitig Milliarden von Teilen des genetischen Codes untersucht, identifizierten die spanischen Forschenden aber einen Fehler in einem anderen Gen. Dieses Gen bildet ein bestimmtes Enzym, die sogenannte Cytochrom-P450-Oxidoreduktase (POR).
Hier kam die Gruppe von Amit Pandey ins Spiel: Auf dem Gebiet von Stoffwechselstörungen, die durch Mutationen dieses POR-Gens verursacht werden, ist sein Labor für pädiatrische Endokrinologie führend. Durch seine langjährige Erforschung des POR-Gens wusste Pandey, dass die Aromatase zur Herstellung von Östrogenen auf die Energiezufuhr durch das POR-Enzym angewiesen ist. «Wir hatten die Methoden, um herauszufinden, wie genau sich nun eine Veränderung von POR auf die Östrogenproduktion auswirkt» erklärt Pandey.
Shaheena Parween aus seiner Gruppe konnte das POR-Gen genetisch so modifizieren, dass es dem bei der Patientin gefundenen Defekt entsprach, und stellte in Escherichia coli-Bakterien die Produktion des POR-Enzyms der Patientin nach. Die Berner Forschenden konnten zeigen, dass POR, das mit dem genetischen Defekt der Patientin hergestellt wurde, den grössten Teil seiner Fähigkeit, die Östrogenproduktion zu unterstützen, verloren hatte. «Daher konnte die Patientin selbst mit einem korrekten Aromatase-Enzym nicht mehr genügend Östrogene produzieren», erklärt Pandey. Die Kenntnis des genauen Mechanismus, der zu Aromatasemangel führt, ermöglicht es Ärztinnen und Ärzten, aktuelle Oestrogen-Ersatztherapien genau zu steuern. Damit eröffnen sich auch Möglichkeiten zu neuen Therapieansätzen. «Unsere Studie demonstrierte die leistungsstarke diagnostische Fähigkeit der modernen Sequenziertechnologien», sagt Pandey.
Unterstützung der Forschung in Arika und Indien
Das Berner Team erweiterte seine Studien, indem es mehr Patientinnen und Patienten mit Aromatasemangel aus Afrika und Indien untersuchte und die genauen Ursachen der genetischen Defekte identifizierte, die für den Verlust der Östrogenproduktion verantwortlich sind. Dabei zeigte sich, dass die Zusammenarbeit mit den Berner Forschenden den Einsatz fortschrittlicher Diagnose- und Testtechnologien ermöglichte, die in den örtlichen Krankenhäusern nicht verfügbar sind. «Dies unterstreicht die Rolle der internationalen Zusammenarbeit bei der Diagnose und Therapie seltener Stoffwechselstörungen», betont Pandey.
Bern als idealer Standort
«Alle Menschen haben sehr ähnliche Gene, können aber dennoch bis zu einer Million oder mehr Unterschiede in ihrem genetischen Code aufweisen, sogar zwischen einer Tochter und ihrer Mutter. Wenn wir also genau herausfinden, was eine Krankheit verursacht, dann können präzise Diagnosen gestellt und neue gezielte Therapien entwickelt werden», so Pandey. «Die modernen Sequenzierungstechnologien bringen die Präzisionsmedizin voran – so wird es möglich, massgeschneiderte Behandlungen für Patientinnen und Patienten entsprechend ihrer genetischen Ausstattung zu entwickeln.» Gerade im Bereich der seltenen Stoffwechselkrankheiten sei der Medizinalstandort Bern mit den beiden Neugründungen des Bern Center for Precision Medicine (BCPM) der Universität Bern und des Zentrums für seltene Krankheiten am Inselspital bestens aufgestellt.
Die Studien wurden vom Schweizerischen Nationalfonds, der Novartis Stiftung für medizinisch-biologische Forschung, der Burgergemeinde Bern, dem Fondo de Investigación Sanitaria, ISCIII, Spanien, und der CRT Foundation, Italien, finanziert.
Publikationsdetails:
Parween S, Fernández-Cancio M, Benito-Sanz S, et al. Molecular basis of CYP19A1 deficiency in a 46, XX patient with R550W mutation in POR: Expanding the PORD phenotype. J Clin Endocrinol Metab. 2020; 105 (4) e1272-e1290, https://dx.doi.org/10.1210/clinem/dgaa076
Flück CE, Parween S, Rojas Velazquez MN, Pandey AV. Inhibition of placental CYP19A1 activity remains as a valid hypothesis for 46, XX virilization in P450 oxidoreductase deficiency. Proceedings of the National Academy of Sciences USA 2020 https://dx.doi.org/10.1073/pnas.2003154117
Parween S, DiNardo G, Baj F, Zhang C, Gilardi G, Pandey AV. Differential effects of variations in human P450 oxidoreductase on the aromatase activity of CYP19A1 polymorphisms R264C and R264H. J Steroid Biochem Mol Biol. 2020;196:105507. https://dx.doi.org/10.1016/j.jsbmb.2019.105507
Valiyaparambil Pavithran Praveen, Asmahane Ladjouze, Kay-Sara Sauter, Annie Pulickal, Efstathios Katharopoulos, Mafalda Trippel, Aurel Perren, Amit V Pandey, Christa E Flück, Novel CYP19A1 mutations extend the genotype-phenotype correlation and reveal the impact on ovarian function, Journal of the Endocrine Society, 2020, 4(4) bvaa030, https://doi.org/10.1210/jendso/bvaa030
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
NATHALIE MATTER
Themenverantwortliche «Gesundheit und Medizin», Media Relations, Universität Bern
Telefon: +41 31 631 45 80
E-Mail-Adresse: nathalie.matter@kommunikation.unibe.ch
Originalpublikation:
https://academic.oup.com/jcem/article-abstract/105/4/e1272/5736381?redirectedFro…
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