24.02.2020 14:00
Antikörper als Therapiealternative bei Tumoren am Hör- und Gleichgewichtsnerv?
Bei Neurofibromatose Typ 2 bilden sich gutartige Hirntumoren beidseitig am Hör- und Gleichgewichts-Nerv (sog. Vestibularis-Schwannome). Wenn diese wachsen, kann es zunehmend zu Tinnitus und Schwindel, sogar Hörverlust kommen. Die Therapie erfolgt meist mikrochirurgisch oder mit Strahlentherapie (Radiochirurgie und stereotaktische Radiotherapie). Nun macht eine medikamentöse Antikörpertherapie Hoffnung, die in einer Phase-II-Studie untersucht wurde [1]. Sie könnte zumindest für erwachsene Patienten eine Therapiealternative darstellen.
Neurofibromatose Typ 2 (NF2) wird durch eine Genmutation verursacht, im Verlauf der Erkrankung kommt es zu Tinnitus (Störgeräusche im Ohr), Schwinden und zu einer fortschreitenden Verschlechterung der Hörfähigkeit, wenn nicht rechtzeitig interveniert wird, bis hin zum vollständigen Hörverlust. Auch Kinder können bereits an NF2 erkranken. Die bisherige Standardtherapie ist die Operation oder die Strahlentherapie, doch oft kommt es danach zu Rückfällen.
Eine neue Therapieoption ist die Antikörpertherapie mit Bevacizumab. Dabei handelt es sich um einen Angiogenesehemmer, der die Bildung von Blutgefäßen am Tumor unterbindet und ihn so von der Blut- und Nährstoffzufuhr abschneidet, der Tumor wird quasi ausgehungert. Erste Studien hatten gezeigt, dass bei 35%-40% der Patienten mit fortschreitendem Vestibularis-Schwannom durch die Therapie mit dem monoklonalen Antikörper Bevacizumab eine deutliche Hörverbesserung erreicht werden kann. Eine aktuelle multizentrische Phase-II-Studie untersuchte Wirksamkeit und Sicherheit dieser Therapie höherer Bevacizumab-Dosierungen (10 mg/kg i. v. alle zwei Wochen statt wie in den vorhergehenden Studien 7,5 mg/kg alle drei Wochen i. v.) – doch sie enttäuschte. „Leider musste festgestellt werden, dass hohe Bevacizumab-Dosen nicht zum besseren Therapieansprechen führten als die vorher untersuchte Dosierung“, kommentiert Prof. Dr. med. Wolfgang Wick, Ärztlicher Direktor (Neurologie und Poliklinik), Universitätsklinikum Heidelberg.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Insgesamt erhielten in der Studie 22 Patienten, 15 Erwachsene und 7 Kinder, mit fortschreitendem Hörverlust über sechs Monate die Therapie in der Dosis 10 mg/kg alle zwei Wochen; danach für weitere 18 Monate eine Erhaltungstherapie in einer reduzierten Dosis (5 mg/kg alle drei Wochen). Der primäre Studienendpunkt war die Veränderung der Hörfähigkeit, erhoben mit dem ein WRS-Hörtest („word recognition score“), nach sechs Monaten. Sekundär wurden Lebensqualität, Veränderungen in der Bildgebung, Blutwerte und Nebenwirkungen erfasst.
Nach sechs Monaten zeigten 9/22 (41%) der Patienten (1/7 Kindern und 8/15 Erwachsenen) eine Verbesserung im Hörtest (p=0,08) – weitere 50% hatten unter der Therapie zumindest keine weitere Hörverschlechterung erlitten. Eine Hörverschlechterung unter der Behandlung trat nur bei insgesamt zwei Patienten auf, beide waren unter 21 Jahre alt. In der Bildgebung zeigten 95% der Patienten keine weitere Zunahme der Tumorgröße; ein Therapieansprechen (Verkleinerung der Vestibularis-Schwannome) konnte insgesamt bei 7/22 (32%) Patienten erreicht werden, bei allen 7 handelte es sich um erwachsene Patienten. Bei den pädiatrischen Patienten kam es hingegen nicht zur Tumorverkleinerung.
„Bei Kindern war das Therapieansprechen also schlechter als bei Erwachsenen – das kann verschiedene Gründe haben. So hatten die Kinder größere initiale Tumorvolumina. Natürlich muss auch bedacht werden, dass sieben pädiatrische Patienten keine ausreichend große Stichprobe bilden, um statistische Aussagen generieren zu können“, erklärt der Experte.
Die NF2-bezogene Lebensqualität hatte sich insgesamt bei 30% der Patienten gebessert, der Tinnitus-bezogene Leidensdruck sogar bei 60%. Die Verträglichkeit von Bevacizumab wurde insgesamt als gut eingeschätzt. Nebenwirkungen waren leicht bis moderat, am häufigsten waren erhöhter Blutdruck, Müdigkeit, Kopfschmerzen und Menstruationsstörungen.
„Ein klinischer Nutzen ist auf jeden Fall für die meisten Patienten vorhanden, für genauere Aussagen wären natürlich größere und randomisierte klinische Studien wünschenswert, aber bei seltenen Erkrankungen ist es immer schwierig, eine ausreichend große Patientenzahl zu rekrutieren“, so Prof. Wick. „Nach derzeitigem Kenntnisstand kann Bevacizumab zumindest für erwachsene Patienten eine Therapiealternative darstellen. Die Follow-up-Ergebnisse der weiteren Erhaltungstherapie müssen allerdings noch zeigen, ob die Progredienz der Erkrankung auch im weitere Verlauf aufgehalten werden kann.“
Literatur
[1] Plotkin SR, Duda DG, Muzikansky A et al. Multicenter, Prospective, Phase II and Biomarker Study of High-Dose Bevacizumab as Induction Therapy in Patients With Neurofibromatosis Type 2 and Progressive Vestibular Schwannoma. J Clin Oncol 2019 Dec 10; 37(35): 3446-54
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Originalpublikation:
DOI: 10.1200/JCO.19.01367
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