19.08.2022 13:13
Gehirnaktivität kann vorhersagen, wie sich soziale Fähigkeiten entwickeln
Neue Erkenntnisse aus der Messung der Hirnaktivität könnten den Weg für eine maßgeschneiderte Unterstützung von Autisten ebnen und deren Lebensqualität verbessern. Das ZI trägt als Studienzentrum wesentlich dazu bei, Daten zu gewinnen und auszuwerten.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Neue Forschungsergebnisse der Birkbeck University of London haben erstmals gezeigt, dass sich anhand der Messung der Gehirnaktivität drei Untergruppen von Autismus identifizieren lassen. Wichtig ist, dass die Forschung auch zeigt, dass die Gehirnaktivität vorhersagen kann, wie sich die sozialen Fähigkeiten entwickeln. Diese neue Art der Vorhersage, wie sich die sozialen Fähigkeiten auf natürliche Weise verändern könnten, könnte dazu beitragen, eine maßgeschneiderte Betreuung zu gewährleisten und damit die Lebensqualität von Autisten langfristig erheblich zu verbessern.
Bei der Untersuchung wurden den Teilnehmenden wiederholt Bilder von Gesichtern gezeigt, während ihre Gehirnaktivität aufgezeichnet wurde. Die Mittelwertbildung der Gehirnreaktionen auf jedes Gesicht ergab ein bestimmtes Gehirnwellenmuster, das etwa 170 Millisekunden nach dem Erscheinen jedes Gesichts auftrat.
Die Studie bestätigte, dass Autisten auf Gruppenebene dazu neigen, Gesichter anders zu verarbeiten als Nichtautisten: Autisten zeigen im Durchschnitt eine kurze Verzögerung, bevor das Muster erscheint. Diese Unterschiede stehen im Zusammenhang mit der Aktivität in bestimmten sozialen Gehirnregionen und mit genetischen Merkmalen, die mit Autismus in Verbindung stehen. Die Forscher fanden auch heraus, dass es innerhalb der autistischen Teilnehmenden drei verschiedene Untergruppen gab.
In einer Folgestudie der autistischen Teilnehmenden nach 18 Monaten bis zwei Jahren stellten sie fest, dass die ursprüngliche Verzögerungszeit des Gehirns jedes Einzelnen die Veränderung seiner sozialen Fähigkeiten vorhersagte. Dies könnte helfen, die Unterstützung für Einzelpersonen in der Zukunft anzupassen, da es bei der individuellen Entscheidungsfindung über die Notwendigkeit von sozial gezielten Unterstützungsstrategien helfen könnte.
Die leitende Forscherin Professor Emily Jones, Professorin für translationale Neuroentwicklung an der Birkbeck University of London, sagte: „Etwa 1 Prozent der britischen Bevölkerung ist autistisch und reagiert in der Regel anders auf soziale Interaktionen. Sie neigen auch dazu, unterschiedliche Kommunikationsstile, Interessenmuster und sensorische Schwierigkeiten zu haben. Die Art und Weise, in der verschiedene Menschen Autismus erleben, ist von Person zu Person sehr unterschiedlich. Unsere Ergebnisse könnten schließlich dazu genutzt werden, die Unterstützung effektiver zu gestalten und das psychische Wohlbefinden und die Lebensqualität autistischer Menschen zu verbessern. Dies ist wichtig, da Schwierigkeiten bei der sozialen Entwicklung zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Isolation und Einsamkeit führen können, was wiederum zu den von autistischen Menschen berichteten höheren Angst- und Depressionsraten beitragen kann.“
Die Forschungsarbeit ist Teil des Projekts Autism Innovative Medicine Studies-2-Trials (AIMS-2-TRIALS), das eine groß angelegte Zusammenarbeit in ganz Europa mit der Bezeichnung Longitudinal European Autism Project (LEAP) umfasst. Sie zielt darauf ab, die Lebensqualität autistischer Menschen zu verbessern.
Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) ist Partner in dieser weltweit größten Autismus-Studie und als aktives Zentrum an der nun veröffentlichten Studie beteiligt. Forschende des ZI führen in einer über mehrere Jahre andauernden Verlaufsstudie Messungen der Gehirnaktivität bei ProbandInnen durch und werten die Daten aus. „Die Ergebnisse der Studie sind relevant, weil die Reaktionszeit auf Gesichter ein erster Biomarker sein könnte, der die Aussagekraft klinischer Studien zu Autismus verbessern kann. Das könnte uns darin weiterbringen, eine Autismus-Spektrum-Störung frühzeitig zu diagnostizieren und schließlich gezielte, individuell angepasste Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln“, sagte Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski, Mitautor der Studie und Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am ZI.
Die Forschungsergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Science Translational Medicine veröffentlicht.
Originalpublikation:
Mason L, Moessnang C, Chatham C, Ham L, Tillmann J, Dumas G, Ellis C, Leblond CS, Cliquet F, Bourgeron T, Beckmann C, Charman T, Oakley B, Banaschewski T, Meyer-Lindenberg A, Baron-Cohen S, Bölte S, Buitelaar JK, Durston S, Loth E, Oranje B, Persico A, Dell’Acqua F, Ecker C, Johnson MH, Murphy D, Jones EJH (2022) Stratifying the autistic phenotype using electrophysiological indices of social perception. Science Translational Medicine
https://www.science.org/doi/10.1126/scitranslmed.abf8987
Weitere Informationen:
https://cbcd.bbk.ac.uk/ Centre for Brain and Cognitive Development an der Birkbeck University of London
https://www.aims-2-trials.eu/ Internetseite des Projekts Autism Innovative Medicine Studies-2-Trials
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch