Kleber für gebrochene Herzen

Kleber für gebrochene Herzen


Teilen: 

18.02.2020 09:17

Kleber für gebrochene Herzen

Ist der Herzmuskel geschädigt, stellt die Reparatur des stets aktiven Organs eine Herausforderung dar. Empa-Forschende entwickeln daher einen von der Natur inspirierten Gewebekleber, der Defekte im Muskelgewebe wieder perfekt zusammenfügen kann. Sie haben sich dazu die phänomenale Haftfähigkeit von Meeresmuscheln zunutze gemacht.

An Wind- und Wellen-gepeitschten Küsten haftet sie stoisch an Felsen, Booten und Stegen: die Muschel. Mit Superkräften, die Spiderman erblassen lassen, hält sich der Muschelfuss auf dem Untergrund fest, produzieren seine Drüsen doch feine Haltefäden, die im Gegensatz zur Spinnenseide auch unter Wasser standhaft und dennoch hochelastisch bleiben. Bestandteil dieser Muschelseide sind unter anderem zwei Eiweisse, mfp-3 und das besonders schwefelhaltige mfp-6. Als Strukturproteine sind sie für die Biomedizin besonders interessant aufgrund ihrer faszinierenden mechanischen Eigenschaften und der Bioverträglichkeit mit lebendem Gewebe.

Am schlagenden Herzen
Diese Eigenschaften machten sich Empa-Forscher vom «Biomimetic Membranes and Textiles»-Labor in St. Gallen zunutze. Das Team um Claudio Toncelli war auf der Suche nach einem bioverträglichen Gewebekleber, der auch unter den herausfordernden Bedingungen am schlagenden Herzen haftet und dennoch elastisch bleibt. Denn wenn Herzmuskelgewebe, etwa durch einen Infarkt oder eine angeborene Störung, geschädigt ist, müssen die Wunden heilen können, obwohl die Muskulatur permanent weiterarbeitet.

Literature advertisement

Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

«Eigentlich bietet sich Kollagen als Grundlage eines Wundklebers an, ein Eiweiss, das auch im menschlichen Bindegewebe und in Sehnen vorkommt», sagt Toncelli. Gelatine beispielsweise besteht aus Kollagen in einer vernetzten Struktur, die für einen Gewebekleber sehr attraktiv wäre. «Die Struktur von Gelatine kommt einigen natürlichen Eigenschaften des menschlichen Bindegewebes bereits recht nahe», so der Forscher. Allerdings ist das Hydrokolloid bei Körpertemperatur nicht stabil, sondern verflüssigt sich. Um also ein adhäsives Material zu entwickeln, das Wunden an inneren Organen fest zusammenhalten kann, mussten die Forscher einen Weg finden, der Gelatine zusätzliche Eigenschaften einzuverleiben.

Perfekte Muschelseide
«Der muskulöse Fuss von Muscheln produziert kräftige Haltefäden, mit denen sich die Muschel im Wasser an allen möglichen Oberflächen anhaften kann», erklärt Toncelli. In dieser Muschelseide spielen mehrere darin enthaltene Eiweisse perfekt zusammen. Inspiriert von der Lösung der Natur, mit wogenden Kräften unter Wasser umzugehen, statteten die Forscher Gelatine-Biopolymere mit funktionellen chemischen Einheiten aus, die jenen der Muschelseide-Eiweisse mfp-3 und mfp-6 gleichen. Sobald das Gelatine-Muschelseide-Gel mit Gewebe in Kontakt kommt, vernetzen sich die Strukturproteine miteinander und sorgen für eine stabile Verbindung der Wundflächen.

Wie gut das neuartige Hydrogel tatsächlich klebt, haben die Forscher bereits in Laborexperimenten untersucht, mit denen sich technische Standards zur sogenannten Berstfestigkeit nachweisen lassen. «Der Gewebekleber hält einem Druck, der dem menschlichen Blutdruck entspricht, stand», so Empa-Forscher Kongchang Wei. Ebenso konnten die Wissenschaftler die gute Gewebeverträglichkeit des neuen Klebers in Zellkultur-Experimenten bestätigen. Nun arbeiten sie mit Hochdruck daran, die klinische Anwendung des «Muschelklebers» voranzutreiben.


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. Claudio Toncelli
Biomimetic Membranes and Textiles
Tel. +41 58 765 72 15
claudio.toncelli@empa.ch

Dr. Luciano Boesel
Biomimetic Membranes and Textiles
Tel. +41 58 765 7393
Luciano.Boesel@empa.ch


Originalpublikation:

K Wei, B Senturk, MT Matter, X Wu, IK Hermann, M Rottmar, C Toncelli; Mussel-Inspired Injectable Hydrogel Adhesive Formed under Mild Conditions Features Near-Native Tissue Properties; ACS Applied Materials & Interfaces (2019); doi: 10.1021/acsami.9b16465


Weitere Informationen:

https://www.empa.ch/web/s604/gewebekleber


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Medizin, Werkstoffwissenschaften
überregional
Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
Deutsch


Quelle: IDW