18.03.2022 11:09
Magersucht: Wenn der Blick in den Spiegel zur Qual wird
Weltweit größte Behandlungsstudie zu Psychotherapie bei Magersucht: Ergebnisse zur Fünf-Jahres-Nachbeobachtung der international renommierten ANTOP-Studie in Lancet Psychiatrie veröffentlicht / Gemeinsame Pressemeldung der Universitätskliniken Tübingen und Heidelberg
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Zur weltweit größten Psychotherapiestudie für ambulante Magersucht-Patientinnen (ANTOP-Studie) haben Forschende der Universitätskliniken Heidelberg (UKHD) und Tübingen jetzt in der renommierten Fachzeitschrift Lancet Psychiatry die Ergebnisse einer Nachuntersuchung veröffentlicht: Fünf Jahre nach Therapieende konnten 41 Prozent der Patientinnen als genesen eingestuft werden, weitere 41 Prozent zeigten teilweise Magersucht-Symptome und 18 Prozent litten immer noch am Vollbild der Erkrankung. Weitere Verbesserungen von Diagnostik und Therapie seien notwendig, um besonders gefährdete Betroffene zu erkennen und langfristig erfolgreich behandeln zu können, so die Expertinnen und Experten.
Magersucht (Anorexia nervosa) ist eine schwerwiegende psychosomatische Erkrankung, die insbesondere Frauen betrifft und oft tödlich verlaufen kann. Die Betroffenen sind enormen körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen ausgesetzt. Aber auch ihre Angehörigen stehen unter einem großen Leidensdruck. Bereits 2014 entstand aus einer Kooperation zehn deutscher psychosomatischer Universitätskliniken unter der Leitung von Prof. Dr. Stephan Zipfel (Universitätsklinikum Tübingen) und Prof. Dr. Wolfgang Herzog (Universitätsklinikum Heidelberg) die weltweit größte Psychotherapiestudie für ambulante Magersucht-Patientinnen. Daran knüpft die aktuelle fünf-Jahres-Nachuntersuchung mit hoffnungsvollen und bedenklichen Ergebnissen an.
Psychosomatische Erkrankung mit starken körperlichen Auswirkungen
Für Anorexia nervosa Patienten und Patientinnen ist der Blick in den Spiegel eine regelrechte Tortur. Sie nehmen sich als übergewichtig wahr, obwohl ihr Body-Mass-Index bereits eine bedrohliche Form angenommen hat. Die Gewichtsreduktion wird durch eine chronisch geringe Nahrungsaufnahme erreicht. Frauen sind überproportional häufig von der Krankheit betroffen (Verhältnis 1:12). Obwohl die Krankheit auf den ersten Blick rein äußerliche Merkmale aufweist, wie ein stark abgemagertes Erscheinungsbild, handelt es sich in erster Linie um eine schwere psychosomatische Erkrankung. Deshalb heißt es in internationalen Behandlungsleitlinien, dass die Psychotherapie die Behandlung der Wahl für Erwachsene mit Magersucht ist. Je nach Schwere der Erkrankung und dem Gewicht der Person können Patienten und Patientinnen ambulant behandelt werden.
Eine Studie, deren Erkenntnisse bereits in die internationalen Behandlungsleitlinien eingeflossen sind, ist die „Anorexia Nervosa Treatment of Outpatients“ kurz ANTOP, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Dabei wurden innovative Behandlungsprogramme, wie die fokale psychodynamische Therapie und eine innovative kognitive Verhaltenstherapie mit optimierten Behandlungen der Richtlinienpsychotherapie in einer randomisierten kontrollierten Studie verglichen. Die „fokale psychodynamische Therapie“ bearbeitet in Therapiesitzungen die ungünstige Gestaltung von Beziehungen sowie Beeinträchtigungen bei der Verarbeitung von Emotionen. Die „kognitive Verhaltenstherapie“ zielt auf die Normalisierung des Essverhaltens und Gewichtssteigerung sowie die Bearbeitung mit der Ess-Störung verbundener Problembereiche, wie etwa Defizite bei sozialer Kompetenz. Die optimierten Behandlungen der „Richtlinienpsychotherapie“ wiederum orientieren sich an Methoden der Standard-Psychotherapie.
Deutliche Verbesserungen in allen drei Therapiegruppen fünf Jahre nach Behandlungsende
„Fünf Jahre nach Therapieende wiesen die Patientinnen im Mittel in allen drei Therapiegruppen deutliche Verbesserungen auf, z.B. eine Zunahme des Gewichts, weniger gestörtes Essverhalten, weniger psychische Symptome“, fassen Prof. Herzog und sein Nachfolger, Prof. Hans-Christoph Friederich, die Ergebnisse zusammen. Ziel der fünf-Jahres-Nachbeobachtung der ANTOP-Studie war es, erstens die Langzeitergebnisse einer gut beschriebenen und recht homogenen Stichprobe erwachsener Patientinnen zu bewerten und zweitens zu untersuchen, ob die bei der ein-Jahres-Nachbeobachtung festgestellten Behandlungsvorteile mehr als vier Jahre später fortbestehen würden.
Ursprünglich wurden 242 Patientinnen mit diagnostizierter Magersucht mittels eines randomisierten Verfahrens in die drei Therapiegruppen eingruppiert. Fünf Jahre nach Therapieende konnten 41 Prozent als genesen eingestuft werden, weitere 41 Prozent zeigten teilweise Magersucht-Symptome und 18 Prozent litten immer noch am Vollbild der Erkrankung. „Ein guter Therapieverlauf wird begünstigt von einem höheren Ausgangsgewicht, einer kürzeren Krankheitsdauer und dem Fehlen einer Depression bei Therapiebeginn“ charakterisiert Prof. Beate Wild vom UKHD robuste Variablen des Erkrankungsverlaufs.
Da aber eine nicht zu unterschätzende Gruppe von Patientinnen leider einen ungünstigen Verlauf aufwies, fordert Prof. Stephan Zipfel vom Universitätsklinikum Tübingen auch weitere Verbesserungen von Diagnostik und Therapie: „Wir brauchen weitere und spezifischere Marker in der Frühphase der Erkrankung, um gezielter potentiell besonders gefährdete Patientinnen erfolgreich behandeln zu können.“
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. Hans-Christoph Friederich
Universitätsklinikum Heidelberg
Ärztlicher Direktor der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik
E-Mail: Hans-Christoph.Friederich@med.uni-heidelberg.de
Prof. Dr. Stephan Zipfel
Universitätsklinikum Tübingen
Ärztlicher Direktor Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Kompetenzzentrum für Essstörungen Tübingen (KOMET)
Tel.: 07071 29 86714
E-Mail: stephan.zipfel@med.uni-tuebingen.de
Originalpublikation:
Herzog W, Wild B, Giel KE, et al. Focal psychodynamic therapy, cognitive behaviour therapy, and optimised treatment as usual in female outpatients with anorexia nervosa (ANTOP study): 5-year follow-up of a randomised controlled trial in Germany [published online ahead of print, 2022 Mar 4]. Lancet Psychiatry. 2022;S2215-0366(22)00028-1. doi:10.1016/S2215-0366(22)00028-1
Weitere Informationen:
https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/zentrum-fuer-innere-medizin-medizin-klini…
https://www.medizin.uni-tuebingen.de/de/das-klinikum/einrichtungen/kliniken/medi…
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler, jedermann
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