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17.03.2023 15:58
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Wie Tumore Blutgefässe umwandeln
Im immer dichter werdenden Zellhaufen von wachsenden Tumoren verwandeln sich Blutgefässe in Kanäle, die mit Fasern vollgestopft sind. Das schwächt die Abwehrkraft von Immunzellen, wie Resultate von Forschenden an der ETH Zürich und der Universität Strassburg nahelegen.
Vor knapp zehn Jahren machten Forschende erstmals die Beobachtung, dass Tumore verschiedener Krebsarten wie Darmkrebs, Brustkrebs oder schwarzer Hautkrebs Kanäle aufweisen, die von der Oberfläche ins Innere des Zellhaufens führen. Doch wie diese Kanäle entstehen und welche Funktionen sie ausüben, blieb lange im Verborgenen.
Aufwändige und detaillierte Untersuchungen
Nun haben die Forschungsgruppen um Viola Vogel, Professorin für angewandte Mechanobiologie an der ETH Zürich, und um Gertraud Orend von der Université Strasbourg mit aufwändigen und detaillierten Untersuchungen mögliche Antworten auf diese Fragen gefunden: Vieles deutet darauf hin, dass die als «tumor tracks» bezeichneten Kanäle von Blutgefässen abstammen.
Zu Beginn versorgen Blutgefässe den rasch wachsenden Zellhaufen mit Zucker und Sauerstoff. Doch dann durchlaufen die Gefässe einen Prozess, während dem sie ihre ursprüngliche bluttransportierende Funktion verlieren, weil sich die Gefässwand verändert und sich der Gefässhohlraum allmählich ausfüllt.
Wenn Fasern das Verhalten von Immunzellen steuern
Das Füllmaterial besteht vor allem aus Zellen und neu gemachten Proteinfasern, die zur sogenannten extrazellulären Matrix gehören. Neben Kollagenfasern finden sich auch Fasern aus Fibronektin. Sie sind an Wachstumsprozessen beteiligt, die sich überwiegend während der Embryonalentwicklung oder der Wundheilung abspielen. In den in Tumorkanäle umgewandelten Blutgefässen sind die Fasern in der Lage, Immunzellen festzuhalten, wie die Forschenden in ihrem Fachbeitrag aufzeigen.
Denn die Zellen strecken sich entlang der Kanäle und haften an den losen Fibronektin-Fasern. «In dieser langgezogenen Form beteiligen sich die Immunzellen nicht am Abwehrkampf, sondern unterstützen Heilungsprozesse», sagt Vogel. Anstatt sich gegen die Tumorzellen zu richten, scheiden die Immunzellen wachstumsfördernde Moleküle aus – und helfen so den Krebszellen, sich zu vermehren.
Bisher verkannte Rolle der Gewebespannung
Offenbar spielt die von der extrazellulären Matrix vermittelte Gewebespannung eine wichtige und bisher nicht bekannte Rolle in der Entwicklung eines Tumors, denn die Fibronektin-Fasern sind im gesunden Gewebe stark gestreckt – und nur im Tumorgewebe schlaff. In dieser lockeren, entspannten Form, umgeben von transformierten Gefässwänden, schaffen die Fibronektin-Fasern offenbar eine Nische, in der die Krebszellen ungestört wachsen können.
Bisher seien meist die Zellen im Fokus der Krebsforschung gestanden, meint Vogel. «Die extrazelluläre Matrix wurde vernachlässigt.» Dadurch blieb unentdeckt, wie die Umgebung Zellfunktionen steuert. «Aber wenn man verstehen will, wie eine Spinne funktioniert, muss man auch ihr Netz berücksichtigen», sagt die Biophysikerin.
Analogien und Unterschiede finden
Die neuen Erkenntnisse versteht Vogel deshalb auch als Denkanstoss, um den Blickwinkel zu erweitern – und so unser Verständnis zu verfeinern. «Denn je besser wir verstehen, was Tumorzellen brauchen, um sich zu vermehren, desto eher finden wir auch Möglichkeiten, wie wir diese Vermehrung verhindern können», sagt Vogel.
Sie gibt allerdings zu bedenken, dass die Resultate aus Versuchen an Mäusen mit Brustkrebs stammen. Ob sie sich direkt auf das Krebsgeschehen im Menschen übertragen lassen, sei zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht klar. Allerdings gibt es einige Parallelen, wie die Gruppe um Orend kürzlich mit einer anderen Studie aufzeigt hat.
Derweil hat die Forschungsgruppe von Viola Vogel eine Zusammenarbeit mit dem Kantonsspital Baden begonnen: Einer ihrer Doktoranden untersucht in einem Folgeprojekt, ob sich auch in Gewebeproben von Brustkrebspatientinnen Spuren von umgewandelten Blutgefässen finden lassen. «Wo finden wir Analogien – und wo Unterschiede?», fragt Vogel.
Originalpublikation:
Fonta CM, Loustau T, Li C, et al. Infiltrating CD8+ T cells and M2 macrophages are retained in tumor matrix tracks enriched in low tension fibronectin fibers. Matrix Biology 116: 1-27. doi: 10.1016/j.matbio.2023.01.002
Murdamoothoo D, Sun Z, Yilmaz A, et l. 2021. Immobilization of infiltrating cytotoxic T lymphocytes by tenascin-C and CXCL12 enhances lung metastasis, EMBO Mol Med, 13:e13270. doi: 10.15252/emmm.202013270
Weitere Informationen:
https://ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2023/03/wie-tumore-blu…
Bilder
Gewebeschnitt eines Brusttumors einer Maus: Matrix-Kanäle (grün) teilen das Tumorgewebe (blau) und …
aus Fonta et al., Matrix Biol.
Fonta et al., Matrix Biol.
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch