10.11.2022 15:59
Blutgerinnsel bei Sinusthrombosen kathetergestützt entfernen
Zehn bis 15 Prozent der Patientinnen und Patienten mit einer schweren Sinusthrombose versterben an dieser seltenen Erkrankung oder kämpfen im Anschluss mit bleibenden Beeinträchtigungen. In einer retrospektiven Studie zeigte ein Forschungsteam vom Department für Radiologie am Universitätsklinikum Tübingen und vom Zentrum für Neurologie Tübingen, dass die kathetergestützte Entfernung des Blutgerinnsels ein wirksames Verfahren bei schweren Verläufen darstellt und die medikamentöse Therapie effizient ergänzt. Die Studie ist aktuell in der internationalen Fachzeitschrift Journal of Clinical Medicine publiziert.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Bei der selten vorkommenden Sinusthrombose bildet sich ein Blutgerinnsel im venösen Gefäßsystem des Gehirns und verschließt so eine oder mehrere Venen. Dabei ist der Blutabfluss aus dem Gehirn blockiert. In den meisten Fällen lässt sich diese seltene Erkrankung gut mit gerinnungshemmenden Medikamenten behandeln. Das Gerinnsel löst sich dabei in der Regel innerhalb von Tagen bis hin zu mehreren Monaten vollständig auf.
Bei zehn bis 15 Prozent der Patientinnen und Patienten verläuft die Thrombose allerdings schwer – das bedeutet tödlich oder mit irreversiblen Behinderungen, die den Alltag erheblich einschränken. Diese Verläufe sind meistens durch einen erhöhten Hirndruck, Hirneinklemmungen oder Blutungen bedingt, verursacht durch den vom Blutgerinnsel gebildeten venösen Rückstau. „Hier muss schnell gehandelt werden: Die Prognose für Patientinnen und Patienten mit Hirnschwellung oder Hirnblutung verschlechtert sich, wenn die medikamentöse Therapie nicht oder nicht schnell genug anschlägt“, sagt Studienleiter Dr. Benjamin Bender vom Department für Radiologie, Abteilung für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie am Universitätsklinikum Tübingen.
Um den therapeutischen Erfolg einer zusätzlichen kathetergestützten Entfernung des Blutgerinnsels (Thrombektomie) bei schweren Sinusthrombosen zu untersuchen, führte das mehrköpfige Forschungsteam eine retrospektive Studie mit bestehendem Datenmaterial durch. Hintergrund ist die Behandlung des arteriellen Schlaganfalls, bei dem die Thrombektomie inzwischen Standard ist und auch am Tübinger Uniklinikum regelhaft durchgeführt wird. „Die gleiche Methode ist prinzipiell auch bei Sinusthrombosen möglich, jedoch war bisher weitestgehend unklar, ob dieses Verfahren ergänzend zur Medikamentengabe auch bei venösen Thrombosen zum Behandlungserfolg führt“, so Bender. „Die einzige Studie, die zuvor prospektiv an anderer Stelle durchgeführt wurde, zeigte keinen klinischen Vorteil einer interventionellen Entfernung des Gerinnsels. Sie wies allerdings methodische Probleme auf, insbesondere wurden dabei Techniken angewandt, die mit einem deutlich erhöhten Blutungsrisiko einhergehen. Beispielsweise die zusätzliche Gabe von Medikamenten, die die Gerinnsel sehr schnell auflösen.“
Das war für die Tübinger Forscherinnen und Forscher Anlass, das bestehende Datenmaterial zu Fällen von venösen Blutgerinnseln zu überprüfen, die am Uniklinikum bereits mittels der schonenden Thrombektomie behandelt wurden. Dabei wird per Katheter ein Stent (Drahtgeflecht) im Blutgerinnsel freigesetzt, welches anschließend mit leichtem Unterdruck abgesaugt wird. Alternativ muss nur abgesaugt werden. „Unsere Studienergebnisse zeigen, dass das Verfahren sicher ist und das gefährliche Blutgerinnsel ohne erhöhtes Blutungsrisiko oder andere Komplikationen aus der verschlossenen Vene entfernt werden konnte“, berichtet Bender. Bei venösen Thromben, die durch eine erhebliche unfallbedingte Verletzung der Gefäßwand – also eine schwere Kopfverletzung – verursacht sind, verstarben die Patientinnen und Patienten allerdings an den schwerwiegenden Begleitverletzungen.
Basierend auf diesen Daten werden die Patientinnen und Patienten mit schweren Symptomen von venösen Thrombosen am Universitätsklinikum Tübingen weiterhin mittels der Schlüsselloch-OP behandelt. „Wichtig dabei ist, dass entsprechend Betroffene rasch bei uns am Klinikum vorgestellt werden, da die Erfolgsquote von der Festigkeit des Blutgerinnsels abhängt“, sagt Bender abschließend.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Dr. Benjamin Bender
Department für Radiologie
Abteilung für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie
Originalpublikation:
Jedi, F., et al. “Mechanical Thrombectomy in Cerebral Venous Sinus Thrombosis: Reports of a Retrospective Single-Center Study.” Journal of Clinical Medicine, 28. Oktober 2022.
DOI: https://doi.org/10.3390/jcm11216381
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