25.01.2022 16:02
Neuronale Kooperation in der Hörrinde
Unser Gehirn besteht aus einer rechten und einer linken Hälfte. Beide Hemisphären haben unterschiedliche Aufgaben und Funktionen beim Wahrnehmen und Lernen. Forschende am Leibniz-Institut für Neurobiologie (LIN) Magdeburg, dem Deutschen Primatenzentrum (DPZ) in Göttingen und der Otto-von-Guericke-Universität (OVGU) Magdeburg haben in einer aktuellen Studie mit Mongolischen Wüstenrennmäusen gezeigt, wie beide Gehirnhälften beim Erlernen akustischer Reize zusammenarbeiten. Die Erkenntnisse, die im Journal of Neuroscience veröffentlicht wurden, könnten zu neuen Therapiemöglichkeiten bei Menschen mit Störungen in der interhemisphärischen Kommunikation führen.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Die Verteilung spezifischer Funktionen zwischen der linken und rechten Gehirnhälfte ist ein grundlegendes neuronales Organisationsprinzip. Für die Ton-Verarbeitung ist die sogenannte Hörrrinde zuständig, die in beiden Hirnhemisphären liegt und Arbeitsteilung betreibt: So wird Sprache hauptsächlich in der linken Großhirnhälfte und Musik in der rechten Hälfte verarbeitet. Diese Spezialisierung basiert unter anderem auf bestimmten akustisch-physikalischen Parametern von Sprache und Musik: schnelle zeitliche Veränderungen bei Wort- und Satzanfängen oder kontinuierliche Veränderungen der Tonhöhe bei Musikmelodien.
Auf das Zusammenspiel kommt es an
Das Team um Prof. Dr. Eike Budinger vom LIN konnte in einer umfassenden Studie zeigen, dass nicht nur die beiden Gehirnhälften selbst, sondern auch ihr Zusammenspiel wesentlich am Erlernen akustischer Parameter, die der spezialisierten Verarbeitung von Sprache und Musik zugrunde liegen, beteiligt sind.
Erstautorin Dr. Katja Saldeitis vom DPZ hat Mongolische Wüstenrennmäuse, deren Hörvermögen dem des Menschen relativ ähnlich ist, darauf trainiert, Schallreize mit absteigender oder aufsteigender Tonhöhe zu unterscheiden. „Mäuse mit intakten Verbindungen zwischen den Hörrinden beider Hemisphären erlernten diese Aufgabe innerhalb weniger Tage. Mäuse mit gestörten interhemisphärischen Verbindungen benötigten dafür wesentlich länger und waren am Ende auch nicht so erfolgreich wie gesunde Mäuse“, beschreibt Saldeitis.
Wurden die interhemisphärischen Verbindungen bei den gesunden Tieren jedoch nach dem Erlernen gezielt unterbrochen, war die Leistungsfähigkeit der Mäuse bei dieser Aufgabe trotzdem nicht eingeschränkt. Gleichzeitig wurde auch das Erkennen und Unterscheiden kurzer zeitlicher Änderungen in den Schallreizen, wie zum Beispiel Pausen, nicht durch gestörte interhemisphärische Verbindungen beeinträchtigt.
Budinger erklärt: „Wir schlussfolgern aus den Ergebnissen unter anderem, dass die rechte Hemisphäre melodische Tonhöhenveränderungen zwar bevorzugt verarbeitet, für deren Erlernen aber Informationen aus der linken Hemisphäre benötigt. Umgekehrt benötigt die linke Hemisphäre, die bevorzugt zeitliche Veränderungen verarbeitet, aber keine zusätzlichen Informationen aus der rechten Hemisphäre.“
Gezielte Trainingsprogramme als mögliche Therapie
Perspektivisch gibt die vorliegende Studie wichtige Hinweise für die Behandlung von Störungen der akustischen interhemisphärischen Kommunikation, wie sie beispielsweise bei Schizophrenie, Dyslexie und Tinnitus auftreten. Budinger nimmt an: „Diese Symptome könnten vielleicht durch gezielte akustische Trainingsprogramme therapiert werden, die alternative Verarbeitungswege, die in tieferen Hirnstrukturen oder nur einer Hemisphäre verankert sind, stärken.“
Originalpublikation:
https://www.jneurosci.org/content/early/2022/01/20/JNEUROSCI.0216-21.2022
Weitere Informationen:
https://www.lin-magdeburg.de/cni/ag-funktionelle-neuroanatomie
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
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