18.03.2022 13:45
Die farbigen Skelette von Çatalhöyük
Ein internationales Team mit Forschenden der Universität Bern liefert neue spannende Erkenntnisse darüber, wie die Bewohner der «ältesten Stadt der Welt» in Çatalhöyük (Türkei) ihre Toten bestatteten. Deren Knochen wurden teilweise bemalt, mehrmals ausgegraben und wieder bestattet. Die Erkenntnisse geben einen Einblick in die Begräbnisrituale einer faszinierenden Gesellschaft, die vor 9000 Jahren lebte.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Çatalhöyük in Zentralanatolien, Türkei, ist eine der bedeutendsten archäologischen Stätten im Nahen Osten mit einer neolithischen (jungsteinzeitlichen) Besiedlung. Diese geht auf die Zeit von vor zwischen 9’000 und 8’000 Jahren zurück. Die Siedlung, die als älteste Stadt der Welt bekannt ist, erstreckt sich über eine Fläche von 13 Hektaren und weist eine dichte Ansammlung von Lehmziegelgebäuden auf. In den Häusern von Çatalhöyük finden sich die archäologischen Spuren von Begräbnisritualen mit Skeletten, die Spuren von Farbstoffen tragen, sowie dazugehörige Wandmalereien.
Der Zusammenhang zwischen der Verwendung von Farbstoffen und symbolischen Handlungen ist bei vielen menschlichen Gesellschaften dokumentiert. Im Nahen Osten waren Pigmente in Begräbnis- und auch architektonischen Kontexten ab der zweiten Hälfte des 9. und 8. Jahrtausends v. Chr. besonders häufig. Die archäologischen Stätten des Nahen Ostens, die auf die Jungsteinzeit zurückgehen, haben eine Vielzahl von Belegen für komplexe, oft rätselhafte symbolische Handlungen geliefert. Dazu gehören das Ausgraben und erneute Bestatten von Toten, das Weiterreichen von Skelettteilen, wie zum Beispiel Schädeln, in der Gemeinschaft, sowie die Verwendung von Pigmenten sowohl auf Knochen als auch auf Hauswänden, die in Zusammenhang mit den Begräbnissen stehen.
Eine Studie, die kürzlich von einem internationalen Forschungsteam mit Berner Beteiligung in der Zeitschrift Scientific Reports veröffentlicht wurde, liefert die erste detaillierte Analyse der Verwendung von Pigmenten bei Bestattungen und an den Wänden der Bestattungs-Räume in dieser wichtigen neolithischen Stätte. Dr. Marco Milella, Hauptautor der Studie von der Abteilung für Physische Anthropologie am Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern, erklärt: «Wir zeigen erstmals Zusammenhänge zwischen Bestattungsritualen, Wohnbereichen und der Verwendung von Farbstoffen in dieser faszinierenden Gesellschaft.»
Eine Zeitreise in eine Welt der Farben, Häuser und Toten
Marco Milella war Teil des anthropologischen Teams, das die menschlichen Überreste der Stätte ausgegraben und untersucht hat. Seine Arbeit bestand hauptsächlich darin, Tote vergangener Gesellschaften zum «Sprechen» zu bringen. Alter und Geschlecht der Verstorbenen festzustellen, das Vorhandensein von Gewaltverletzungen oder einer speziellen Behandlung der Leiche zu überprüfen und «Skeletträtsel» zu lösen, gehören zum normalen Alltag in der Abteilung Anthropologie des Berner Instituts für Rechtsmedizin.
Die Forschenden wiesen nach, dass roter Ocker das am häufigsten verwendete Pigment in Çatalhöyük war und dass der Farbstoff auf den Körpern von mehreren Erwachsenen und Kindern beider Geschlechter zu finden war, während Zinnober und blaues sowie grünes Pigment eher bei Erwachsenen verwendet wurde. In einem Gebäude scheint die Zahl der Bestattungen interessanterweise mit der Zahl der nachfolgenden Schichten von Wandmalereien zusammenzuhängen. Dies deutet laut den Forschenden stark auf einen kontextuellen Zusammenhang zwischen der Bestattung und dem Auftragen von Farbstoffen im Wohnbereich hin. «Das heisst: bei jeder Bestattung wurden auch die Wände des Hauses bemalt», sagt Milella. Zudem blieben in Çatalhöyük einige Verstorbene quasi Teil der Gemeinschaft: Teile ihres Skeletts wurden wieder ausgegraben und eine Zeit lang weitergereicht, bevor sie erneut bestattet wurden. Diese zweite, manchmal auch dritte Bestattung von Skelettteilen wurde ebenfalls von Wandmalereien begleitet.
Neolithische Geheimnisse
Nur eine Auswahl von Individuen wurde mit Farbstoffen bestattet, und nur ein Teil dieser Individuen blieb mit ihren weitergereichten Gebeinen Teil der Gemeinschaft. «Die Kriterien für die Auswahl dieser Individuen sind bislang unbekannt. Unsere Studie zeigt, dass diese Auswahl nicht mit dem Alter oder dem Geschlecht zusammenhängt», erklärt Milella. Klar sei jedoch, dass vor 9000 Jahren visuelle Ausdrucksformen, rituelle Handlungen und symbolische Assoziationen Elemente einer gemeinsamen soziokulturellen Praktik waren.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Dr. Marco Milella
Universität Bern, Institut für Rechtsmedizin, Anthropologie
+41 31 684 02 07
marco.milella@unibe.ch
Originalpublikation:
Schotsmans, E.M.J., Busacca, G., Lin, S.C., Vasić, M., Lingle, A.M., Veropoulidou, R., Mazzucato, C., Tibbetts, B., Haddow, T.S., Somel, M., Toksoy-Köksal, F., Knüsel, C.J., and Milella, M. New insights on commemoration of the dead through mortuary and architectural use of pigments at Neolithic Çatalhöyük, Turkey. Sci Rep 12, 4055 (2022).
DOI: 10.1038/s41598-022-07284-3
Weitere Informationen:
https://www.unibe.ch/aktuell/medien/media_relations/medienmitteilungen/2022/medi…
https://www.nature.com/articles/s41598-022-07284-3
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Geschichte / Archäologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch