01.07.2020 17:00
Intelligente Bausteine: Strukturzellen des Körpers steuern die Immunfunktion
Der menschliche Körper besteht aus hoch spezialisierten Komponenten. Knochen und Weichteilgewebe geben die Form, Organe kümmern sich um den Blutkreislauf, die Verdauung und andere Funktionen, und Immunzellen bekämpfen Krankheitserreger. Tatsächlich haben viele Zelltypen und Organe aber mehr als nur eine Rolle. Ein eindrucksvolles Beispiel für das „Multitasking“ von Zellen beschreiben WissenschaftlerInnen am CeMM. In ihrer aktuellen Studie analysierten sie die epigenetische und transkriptionelle Regulation in Strukturzellen (d.h. in Epithelzellen, Endothelzellen und Fibroblasten) – den wichtigsten strukturellen Bausteinen unseres Körpers.
Die ForscherInnen konnten eine überraschend vielfältige Aktivität von Immun-Genen nachweisen, obwohl es sich bei diesen Strukturzellen eigentlich nicht um Zellen des Immunsystems handelt. Strukturzellen sind also nicht nur Bausteine des Körpers, sondern auch eng in die Immunabwehr eingebunden. Die Ergebnisse der Studie, die im renommierten Fachjournal Nature veröffentlicht wurde, unterstreichen die Bedeutung eines kaum beachteten Teils des Immunsystems und eröffnen spannende Perspektiven für Forschung und für zukünftige Therapien.
Unser Immunsystem schützt uns vor ständigen Angriffen durch Viren, Bakterien und andere Krankheitserreger. Ein Großteil dieses Schutzes wird von hämatopoetischen (d.h. Blut-basierten) Immunzellen bereitgestellt, die auf die Bekämpfung von Krankheitserregern spezialisiert sind. Dazu gehören Makrophagen, die Krankheitserreger entfernen; T-Zellen, die Virus-infizierte Zellen abtöten; und B-Zellen, die neutralisierende Antikörper gegen Krankheitserreger produzieren. Die körpereigenen Abwehrfunktionen sind jedoch nicht auf diese Spezialisten beschränkt. Viele weitere Zelltypen können Infektionen erkennen und tragen direkt oder indirekt zur Immunantwort gegen Krankheitserreger bei.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Strukturzellen sind die zentralen Bausteine des Körpers und spielen eine wichtige Rolle für den Aufbau und die Struktur von Geweben und Organen. Epithelzellen bilden die Oberfläche der Haut, und sie trennen Gewebe und Organe voneinander; Endothelzellen bedecken das Innere der Blutgefäße; und Fibroblasten produzieren Bindegewebe, das die Organe formt und zusammenhält. Trotz ihrer gut erforschten Rolle bei Autoimmunerkrankungen (z.B. rheumatoide Arthritis, entzündliche Darmerkrankungen) und bei Krebs haben Strukturzellen den Ruf als simple und eher uninteressante Bestandteile des Körpers. In ihrer neuen Studie widmeten sich Thomas Krausgruber, Nikolaus Fortelny und Kollegen in Christoph Bocks Labor am CeMM der Erforschung von Strukturzellen und ihrer Immunregulation. Dazu führten sie eine systematische, genomweite Analyse der epigenetischen und transkriptionellen Regulation dieser Strukturzellen durch.
Zu diesem Zweck erstellte die Forschergruppe einen umfassenden Katalog der Gen-Aktivität und Gen-Regulation bei drei Arten von Strukturzellen (Epithelzellen, Endothelzellen und Fibroblasten), isoliert aus 12 verschiedenen Organen gesunder Mäuse. Dabei kamen mehrere Technologien für die Hochdurchsatz-Sequenzierung zum Einsatz (RNA-seq, ATAC-seq, ChIPmentation). Diese Daten zeigen, dass zentrale Immun-Gene in Strukturzellen aktiv sind und eine komplexe Zelltyp- und Organ-spezifische Genregulation aufweisen. Vertiefende bioinformatische Analyse haben außerdem ein Netzwerk von Interaktionen zwischen Strukturzellen und hämatopoetischen Immunzellen identifiziert. Daraus ergeben sich konkrete Hinweise auf die biologischen Mechanismen, mit denen Strukturzellen zur Krankheitsabwehr beitragen.
Interessanterweise zeigten viele Immun-Gene besondere epigenetische Eigenschaften, die normalerweise mit einer hohen Genexpression verbunden sind, während die beobachtete Expression in Strukturzellen von gesunden Mäusen eher gering war. Die CeMM-ForscherInnen stellten daher die Hypothese auf, dass diese Gene epigenetisch für eine schnelle Aktivierung vorprogrammiert sind, wenn sie benötigt werden – beispielsweise als Reaktion auf einen Krankheitserreger. Um diese Theorie zu testen, kooperierten sie mit Andreas Bergthaler und seinem Labor am CeMM und studierten die Immunantwort bei Virusinfektionen.
Die Mäuse wurden mit einem Virus (LCMV) infiziert, das eine breite Immunantwort auslöst, worauf viele der epigenetische vorprogrammierten Gene tatsächlich hochreguliert wurden. Damit trugen diese Gene zu den Veränderungen bei, die Strukturzellen als Reaktion auf eine Virusinfektion zeigen. Diese Ergebnisse legen nahe, dass Strukturzellen ein „epigenetisches Potenzial“ besitzen, das schnelle Immunantworten ermöglicht. Als zusätzliche Validierung lösten die ForscherInnen eine künstliche Immunantwort aus, indem sie Mäusen Zytokine injizierten, und konnten feststellen, dass viele der gleichen Gene aktiviert wurden.
Die neue Studie deckt eine bemerkenswerte Komplexität der Regulation von Immun-Genen in den Strukturzellen des Körpers auf. Die Ergebnisse unterstreichen, dass Strukturzellen nicht nur zentrale Bausteine unseres Körpers sind, sondern auch einen wesentlichen Beitrag zur Abwehr von Krankheitserregern leisten. Langfristig könnten diese Erkenntnisse zur Entwicklung von innovativen Therapien für Krankheiten beitragen, an denen das Immunsystem beteiligt ist.
Die Studie “Structural cells are key regulators of organ-specific immune responses” wurde am 1. Juli 2020 in Nature veröffentlicht. DOI: 10.1038/s41586-020-2424-4
Autoren:
Thomas Krausgruber *, Nikolaus Fortelny *, Victoria Gernedl, Martin Senekowitsch, Linda C. Schuster, Alexander Lercher, Amelie Nemc, Christian Schmidl, André F. Rendeiro, Andreas Bergthaler und Christoph Bock | * geteilte Erstautorschaft
Fördermittel:
Die Studie wurde mit Unterstützung eines New Frontiers Group Award der ÖAW, Förderungen aus zwei Spezialforschungsbereichen des Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF SFB F 6102-B21; FWF SFB F 7001-B30) sowie Forschungsgeldern des Europäischen Forschungsrats (ERC) im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms „Horizont 2020“ der Europäischen Union finanziert (Fördervereinbarung Nr. 679146 an Christoph Bock und Fördervereinbarung Nr. 677006 an Andreas Bergthaler). Thomas Krausgruber wurde durch ein Lise-Meitner-Stipendium des Österreichischen Wissenschaftsfonds unterstützt (FWF M2403). Nikolaus Fortelny wurde durch ein Stipendium der Europäischen Organisation für Molekularbiologie unterstützt (EMBO ALTF 241-2017). Alexander Lercher wurde von einem DOC-Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften unterstützt.
Christoph Bock ist seit 2012 Principal Investigator bei CeMM. Er betreibt interdisziplinäre Forschung, um die epigenetischen und genregulatorischen Grundlagen von Krebs zu verstehen und die Präzisionsmedizin mit Genomics-Technologien voranzutreiben. Seine Forschungsgruppe kombiniert experimentelle Biologie (Hochdurchsatz-Sequenzierung, Epigenetik, CRISPR-Screening, synthetische Biologie) mit Informatik (Bioinformatik, maschinelles Lernen, künstliche Intelligenz). Er ist außerdem Gastprofessor an der Medizinischen Universität Wien, wissenschaftlicher Koordinator der Biomedical Sequencing Facility (BSF) am CeMM, und Schlüsselforscher am Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases. Er koordiniert ein EU-Projekt Horizont 2020 zur Einzelzellanalyse menschlicher Organoide als Beitrag zum menschlichen Zellatlas. Christoph Bock ist gewähltes Mitglied der Young Academy der ÖAW und erhielt bedeutende Forschungspreise, darunter die Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft (2009), ein ERC Starting Grant (2016-2021) und den Overton-Preis von der International Society of Computational Biology (2017).
Das CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist eine internationale, unabhängige und interdisziplinäre Forschungseinrichtung für molekulare Medizin unter der wissenschaftlichen Leitung von Giulio Superti-Furga. Das CeMM orientiert sich an den medizinischen Erfordernissen und integriert Grundlagenforschung sowie klinische Expertise, um innovative diagnostische und therapeutische Ansätze für eine Präzisionsmedizin zu entwickeln. Die Forschungsschwerpunkte sind Krebs, Entzündungen, Stoffwechsel- und Immunstörungen sowie seltene Erkrankungen. Das Forschungsgebäude des Instituts befindet sich am Campus der Medizinischen Universität und des Allgemeinen Krankenhauses Wien.
www.cemm.oeaw.ac.at
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Christoph Bock
cbock@cemm.oeaw.ac.at
Originalpublikation:
Die Studie “Structural cells are key regulators of organ-specific immune responses” wurde am 1. Juli 2020 in Nature veröffentlicht. DOI: 10.1038/s41586-020-2424-4
Weitere Informationen:
https://cemm.at/index.php?id=35&no_cache=1&tx_news_pi1%5Bnews_preview%5D…
Anhang
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
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