Kleines Molekül – großes Potential für die Gentherapie



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11.03.2022 11:51

Kleines Molekül – großes Potential für die Gentherapie

Tübinger Forschende beheben Gendefekt in der Petrischale – Laborbesuch im Rahmen der Brain Awareness Week für Medienvertretende möglich

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Ein kleines Stückchen Nukleinsäure könnte der Schlüssel zum Erfolg sein: Mit seiner Hilfe ist es einem Tübinger Forschungsteam im Labor gelungen, einen Genfehler direkt in einer Nervenzelle zu reparieren. Das Molekül verhinderte, dass die Zellen ein fehlerhaftes Protein produzierten und dadurch Schaden nahmen und starben. Mit ihrer „Proof-of-concept-“ oder Machbarkeitsstudie ist das Team um Professor Dr. Ludger Schöls und Dr. Stefan Hauser vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen und der Universität Tübingen einer Gentherapie der zugrundeliegenden Erkrankung einen Schritt näher gekommen. Die Ergebnisse haben die Forschenden in der aktuellen Printausgabe der Fachzeitschrift „Molecular Therapy – Nucleic Acids“ veröffentlicht. Sie bieten interessierten Medienvertreterinnen und -vertretern im Rahmen der Brain Awareness Week vom 14. – 20. März 2022 einen Laborbesuch an.

Bei der Studie nutzte das Team Zellen von Patientinnen und Patienten mit der Spinozerebellären Ataxie Typ 3 oder Machado-Joseph-Krankheit (SCA3/MJD). „Durch einen Erbfehler produzieren ihre Nervenzellen neben einer gesunden Form eines bestimmten Proteins die krankhafte Proteinform Ataxin-3“, erklärt Studienleiter Schöls. „Das fehlerhafte Protein sammelt sich in großen Klumpen in den Zellen an und stört ihren ‚Regelbetrieb‘.“ Das führe langfristig zum Tod der Zellen, und die betroffene Person leide zunehmend an einer Bewegungsstörung, der Ataxie.

„Um die Krankheit zu behandeln, müssen wir an den Ursachen ansetzen: der Entstehung des schädlichen Proteins“, so der Neurologe. Er und sein Team entnahmen den Patientinnen und Patienten Hautzellen und ließen diese nach einer Umwandlung in Stammzellen in der Petrischale zu Nervenzellen reifen. Dann entwickelten sie ein sogenanntes Antisense-Oligonukleotid. „Das ist ein kurzes Stück Nukleinsäure, das in den Nervenzellen gezielt die fehlerhafte Stelle auf der dortigen mRNA erkennt und an sie andockt. Diese wird dadurch abgebaut, und das kranke Protein kann nicht gebildet werden.“

„Unsere Experimente beweisen, dass wir auf diese Weise effizient die Menge des schädlichen Ataxins-3 in Nervenzellen verringern können“, berichtet Erstautor Hauser. Die Methode erwies sich auch als sicher: „Die Erkrankung wird dominant vererbt, das heißt, die Patientinnen und Patienten besitzen neben der kranken auch noch eine gesunde Kopie des Gens. Beide unterscheiden sich nur an einer winzigen Stelle. Wir konnten zeigen, dass der Nukleinsäureschnipsel so spezifisch arbeitet, dass er nur an die kranke Kopie bindet – ganz ähnlich wie ein Schlüssel nur in ein bestimmtes Schloss passt.“

Die „Proof-of-concept“-Studie ist nicht nur für Patientinnen und Patienten interessant, die von SCA3/MJD betroffen sind. „Die Methode eignet sich auch für die Therapie von anderen dominant vererbbaren neurodegenerativen Erkrankungen, bei denen zellschädigendes Protein gebildet wird“, sagt Biologe Hauser. „Die aktuellen Ergebnisse sind beispielsweise ebenfalls für Chorea Huntington oder andere Ataxie-Formen vielversprechend.“

Die gewonnenen Erkenntnisse lassen sich direkt auf Patientinnen und Patienten übertragen, da für die Untersuchungen menschliche Nervenzellen genutzt wurden. Nichtsdestotrotz muss die Methode in einem lebenden Organismus erforscht werden, bevor sie zur Therapie eingesetzt werden kann. So wird die Nukleinsäure bei den Versuchen in der Petrischale von den Zellen einfach aufgenommen – bei einer künftigen Gentherapie muss sie hingegen über eine Rückenmarkspunktion ins Hirnwasser verabreicht werden. Das Forschungsteam plant im nächsten Schritt, die Methode in Mäusen zu erproben.

Die SCA3/MJD ist die häufigste vererbbare dominante Ataxie. Die Symptome und der Verlauf der Erkrankung sind sehr unterschiedlich. „Betroffene können Probleme beim Gehen, Sprechen oder bei den Augenbewegungen haben. Typischerweise treten erste Symptome mit Ende 30 auf, die sich zunehmend verschlechtern“, so Schöls.

Das Forschungsteam möchte interessierten Medienvertreterinnen und -vertretern die Möglichkeit geben, sich die einzelnen Untersuchungsschritte im Labor selbst anzuschauen. Dafür öffnen sie im Rahmen der Brain Awareness Week ihre Türen, die dieses Jahr vom 14. – 20. März stattfindet und auf Gehirnerkrankungen aufmerksam machen will. Die Teilnahmekapazitäten sind begrenzt, für den Besuch gelten die aktuellen Corona-Regeln.

Für die Anmeldung und Rückfragen zum Laborbesuch wenden Sie sich bitte an:
Dr. Mareike Kardinal
Telefon: 07071 29-88800
E-Mail: mareike.kardinal@medizin.uni-tuebingen.de


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Ludger Schöls
Zentrum für Neurologie
Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt neurodegenerative Erkrankungen
Hoppe-Seyler-Straße 3
72076 Tübingen
Telefon +49 7071 29-82057
ludger.schoels[at]uni-tuebingen.de

Dr. Stefan Hauser
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE) in der Helmholtz-Gemeinschaft
Otfried-Müller-Straße 23
72076 Tübingen
Telefon +49 7071 9254 402
stefan.hauser[at]dzne.de


Originalpublikation:

Hauser et al. (2022): Allele-specific targeting of mutant ataxin-3 by anti-sense oligonucleotides in SCA3-iPSC-derived neurons. Molecular Thera-py – Nucleic Acids, 27, pp 99 – 108.
https://doi.org/10.1016/j.omtn.2021.11.015


Weitere Informationen:

http://www.hih-tuebingen.de Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
https://www.dzne.de Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen
https://www.uni-tuebingen.de Universität Tübingen


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler, jedermann
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch


Quelle: IDW