10.06.2022 12:15
Long COVID: Veränderungen im Gehirn
TiHo-Forschungsteam weist Proteinansammlungen im Gehirn nach, wie sie für Alzheimer und Parkinson bekannt sind.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Professorin Dr. Franziska Richter Assencio, Leiterin des Instituts für Pharmakologie, Toxikologie und Pharmazie der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo), veröffentlichte im Fachmagazin eBioMedicine – The Lancet eine Studie, in der sie mit ihrem Team zeigen konnte, dass sich nach einer überstandenen SARS-CoV-2-Infektion die Proteinstruktur der Nervenzellen im Gehirn verändert. Die Forschenden fanden Anhäufungen zur Fehlfaltung neigender und in ihrer Struktur veränderter Proteine, wie sie von Alzheimer- und Parkinson-Patienten bekannt sind. Diese Ansammlungen könnten zu Störungen des Nervensystems führen und beispielsweise die Konzentrations- und Gedächtnisstörungen erklären, über die viele Long-COVID-Betroffene klagen. Außerdem wies das Forschungsteam zu Beginn der Infektion eine Aktivierung von Mikrogliazellen nach, den Immunzellen des Gehirns, die, nachdem die Symptome abgeklungen waren, noch vorhanden war.
Das Forschungsteam untersuchte die Gehirne Syrischer Goldhamster, die mit SARS-CoV-2 infiziert waren, während und nach überstandener Infektion. Die Infektionen hatten sie gemeinsam mit Professorin Dr. Gülşah Gabriel, Virologin am Leibniz-Institut für Virologie und an der TiHo, durchgeführt. Um die Gehirne zu untersuchen, fertigten sie in Kooperation mit dem Institut für Pathologie Schnitte an. Christopher Käufer, PhD, Tierarzt und Forschungsgruppenleiter für In-vivo-Neuroinfektiologie bei Richter Assencio, und Cara Schreiber, Tierärztin und PhD-Kandidatin im Studiengang Systems Neuroscience, führten die aufwendigen Analysen durch. „Für die Phase der akuten Infektion konnten wir zeigen, dass durch SARS-CoV-2 im Epithel der Nasenhöhle und im Riechkolben des Gehirns Zellen der Immunabwehr aktiviert werden“, berichtet Richter Assencio. „Bemerkenswert ist die starke Aktivierung von Mikrogliazellen im Gehirngewebe, also der lokalen Immunabwehr, welche auch 14 Tage nach der Infektion noch vorhanden war.“ Als die Infektion bereits abgeklungen war, fanden die Forschenden die zur Fehlfaltung neigenden Alpha-Synuclein-Proteine und in ihrer Struktur veränderte Tau-Proteine in gehäufter Form in den Nervenzellen der Großhirnrinde. Diese Proteine spielen bei den neurodegenerativen Erkrankungen Alzheimer und Parkinson eine bedeutende Rolle. „Dass nicht alle Hirnregionen betroffen waren, ist eine wichtige Erkenntnis. Das deutet auf eine selektive Empfindlichkeit hin wie sie für neurodegenerative Erkrankungen charakteristisch ist“, erklärt Richter Assencio.
Bei bis zu 67 Prozent der COVID-19-Patientinnen und -Patienten treten während der akuten Infektion neurologische Symptome auf. Diese Symptome können nach der Infektion fortbestehen oder erst Wochen später neu auftreten. Dazu zählen neurologische, neuropsychologische und neuropsychiatrische Symptome wie kognitive Störungen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Schwindel, Depressionen, Angstzustände, Gangstörungen und allgemeine Müdigkeit. Die Pathogenese dieser Symptome ist nach wie vor ungeklärt und es gibt, abgesehen von Rehabilitationsmaßnahmen, derzeit keine wirksamen Behandlungen. „Studien zu Biomarkern für neurodegenerative Erkrankungen im Plasma und bildgebende Verfahren zur Integrität des Gehirns in Long- bzw. Post-COVID-19 Patienten zeigen Ergebnisse, welche mit unseren Beobachtungen übereinstimmen. Die Vielfalt der Symptome weist eindeutig auf eine Beteiligung verschiedener Hirnregionen hin“, erklärt Richter Assencio, „ob und falls ja, wie SARS-CoV-2 in das Gehirn gelangt, ist bisher nicht eindeutig geklärt. Wir konnten SARS-CoV-2 bei unseren Untersuchungen zwar zu keinem Zeitpunkt im Gehirn nachweisen, es gibt aber auch Studien, die geringe Mengen des Virus im Gehirn gefunden haben. Es wäre auch denkbar, dass allein die Reaktion des Immunsystems auf das Virus und die damit einhergehenden Signalmoleküle wie Zytokine die beobachteten Veränderungen hervorrufen.“
Die Forschenden vermuten, dass die Anhäufung von Tau und Alpha-Synuclein eine Ursache für die lang anhaltenden neurologischen Symptome sein können. Richter Assencio sagt: „Es besteht noch viel Forschungsbedarf. Ob die Anhäufung der Proteine in den Neuronen wirklich fortschreitende neurodegenerative Prozesse und neurologische Symptome auslösen, müssen weitere Studien klären. Eines steht aber fest: Wenn wir die Ursachen für die Symptome von Long- und Post-COVID-19 kennen, können darauf aufbauend rationale Therapien für die Betroffenen entwickelt werden. Alpha-Synuclein und Tau wären, falls sich unsere Annahmen bestätigen, wichtige Zielmoleküle für solche Therapien.“
Die Originalpublikation
Microgliosis and neuronal proteinopathy in brain persist beyond viral clearance in SARS-CoV-2 hamster model
Christopher Käufer, Cara S. Schreiber, Anna-Sophia Hartke, Ivo Denden, Stephanie Stanelle-Bertram, Sebastian Beck, Nancy Mounogou Kouassi, Georg Beythien, Kathrin Becker, Tom Schreiner, Berfin Schaumburg, Andreas Beineke, Wolfgang Baumgärtner, Gülsah Gabriel, Franziska Richter, DOI: https://doi.org/10.1016/j.ebiom.2022.103999
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Professorin Dr. Franziska Richter Assencio
Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover
Institut für Pharmakologie, Toxikologie und Pharmazie
Tel.: +49 511 953-8720
franziska.richter@tiho-hannover.de
Originalpublikation:
https://doi.org/10.1016/j.ebiom.2022.103999
Weitere Informationen:
http://www.tiho-hannover.de/pressemitteilungen
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Medizin, Tier / Land / Forst
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
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