Menschen mit seltenen kurzen Vorhofrhythmusstörungen profitieren nicht von Gerinnungshemmung



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25.08.2023 11:35

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Menschen mit seltenen kurzen Vorhofrhythmusstörungen profitieren nicht von Gerinnungshemmung

Die vom Kompetenznetz Vorhofflimmern e.V. (AFNET), Münster, durchgeführte klinische Studie NOAH – AFNET 6 zeigt: Bei Patient:innen mit atrialen Hochfrequenzepisoden (AHRE), aber ohne im EKG dokumentiertes Vorhofflimmern, führt eine Behandlung mit Blutverdünnern („orale Antikoagulation“) zu Blutungen, ohne Schlaganfälle zu verhindern. Dabei war die Zahl der Schlaganfälle mit und ohne Blutverdünnung niedrig. Die Ergebnisse wurden heute beim Jahreskongress der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) in Amsterdam vorgestellt und im New England Journal of Medicine veröffentlicht (1).

Atriale Hochfrequenzepisoden sind kurze und seltene Rhythmusstörungen, die durch implantierte Herzschrittmacher, Defibrillatoren oder Ereignisrekorder nachgewiesen werden. Bei 10 bis 30 Prozent aller Patient:innen mit implantierten Geräten werden AHRE gefunden (2). AHRE ähneln Vorhofflimmern. Deshalb wird Patient:innen mit AHRE häufig eine Behandlung mit Blutverdünnern (Gerinnungshemmung, Antikoagulation) angeboten, auch ohne im EKG dokumentiertes Vorhofflimmern. Die Wirksamkeit und Sicherheit der Antikoagulation bei Menschen mit AHRE wurde bisher noch nie geprüft (2,3).

Die NOAH – AFNET 6 (Non-vitamin K antagonist Oral anticoagulants in patients with Atrial High rate episodes) Studie hat deswegen untersucht, ob bei Menschen mit AHRE eine gerinnungshemmende Behandlung Schlaganfälle, kardiovaskuläre Todesfälle und Embolien verhindert. In der internationalen Wissenschafts-initiierten klinischen Studie wurde bei Menschen ab 65 Jahren, die AHRE mit einer Dauer von mindestens sechs Minuten und mindestens einen zusätzlichen Schlaganfallrisikofaktor (als Schlaganfallrisikofaktoren gelten Herzschwäche, Bluthochdruck, Diabetes, vorheriger Schlaganfall oder transitorische ischämische Attacke, Gefäßerkrankung oder Alter ab 75 Jahre) hatten, der Gerinnungshemmer Edoxaban mit einem Placebo (Scheinmedikament) verglichen. Dies liegt außerhalb der zugelassenen Indikation für Edoxaban.

Der wissenschaftliche Leiter der NOAH – AFNET 6 Studie Prof. Paulus Kirchhof, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), Hamburg, erklärt den Hintergrund der Studie: „Ob Blutverdünner auch Menschen mit AHRE vor Schlaganfällen schützen, war bisher nicht bekannt. Obwohl AHRE dem Vorhofflimmern ähneln, zeigt die NOAH – AFNET 6 Studie, dass Menschen mit AHRE besser ohne Blutverdünner behandelt werden.“

Zwischen 2016 und 2022 wurden 2536 Patient:innen in 206 Studienzentren in 18 Europäischen Ländern im Rahmen der NOAH – AFNET 6 Studie untersucht und behandelt. Die Teilnehmer:innen wurden nach dem Zufallsprinzip einer von zwei gleich großen Gruppen zugeordnet, wobei eine Gruppe gerinnungshemmend behandelt wurde, die andere nicht. Die Teilnehmer:innen der Gerinnungshemmer-Gruppe erhielten Edoxaban in der für die Schlaganfallprävention bei Vorhofflimmern zugelassenen Dosis (60 mg einmal täglich bzw. 30 mg einmal täglich entsprechend den für eine Dosisreduktion bei Vorhofflimmern anerkannten Kriterien). Die andere Gruppe bekam ein Placebo. Dieses enthielt keinen Wirkstoff bei Patient:innen, die kein Aspirin benötigen, oder Aspirin (100 mg täglich), wenn eine Indikation zur Blutplättchenhemmung bestand (3).

Analysiert wurden die Daten von insgesamt 2536 Patient:innen im durchschnittlichen Alter von 78 Jahren. 37 Prozent der Teilnehmenden waren Frauen. Die Patient:innen hatten zusätzliche Schlaganfallrisikofaktoren (Median CHA2DS2-VASc score 4,0±1,3) und AHRE mit einer medianen Dauer von 2,8 Stunden. Alle Teilnehmer:innen wurden bis zum Ende der Studie nachbeobachtet.

Nachdem die erforderliche Zahl von Patient:innen in die Studie eingeschlossen war, zeichneten sich ein Trend zur Unwirksamkeit und erwartete Sicherheitsbedenken, insbesondere Blutungsereignisse, in der Antikoagulationsgruppe gegenüber der Placebogruppe ab. Daraufhin wurde im September 2022 der Entschluss gefasst, die Studie unter kontrollierten Bedingungen vorzeitig zu beenden. Die Analyse der vollständigen Daten bestätigt nun:

Schlaganfall, systemische Embolie oder kardiovaskulärer Tod trat bei 83 Personen der Antikoagulations-Gruppe und bei 101 Personen der Gruppe ohne Antikoagulation auf (Schlaganfall: 0,9 gegenüber 1,1 Prozent pro Jahr, systemische Embolie: 0,5 gegenüber 1,1 Prozent pro Jahr, kardiovaskulärer Tod: 2,0 gegenüber 2,2 Prozent pro Jahr). Das bedeutet, dass kein Unterschied zwischen beiden Behandlungsgruppen nachweisbar ist (HR 0,81 [0,6;1,08], p=0,15).

Ein schweres Blutungsereignis oder der Tod ereignete sich bei 149 Teilnehmer:innen der Antikoagulations-Gruppe (5,9 Prozent/Jahr) und bei 114 der Gruppe ohne Antikoagulation (4,5 Prozent/Jahr), also häufiger bei den Menschen, die das gerinnungshemmende Medikament einnahmen (HR 1,3 [1,02;1,67], p=0,03). Schwere Blutungen traten in der Antikoagulationsgruppe doppelt so häufig auf wie ohne Gerinnungshemmung (2,1 gegenüber 1,0 Prozent pro Jahr). Dies ist eine bekannte Nebenwirkung von Gerinnungshemmern.

Prof. Kirchhof kommentiert: „Wie erwartet, führt die Gerinnungshemmung mit Edoxaban zu mehr Blutungen. Die niedrige Schlaganfallquote mit und ohne Gerinnungshemmung war unerwartet. Die Ergebnisse der NOAH – AFNET 6 Studie sprechen klar dafür, Vorhofflimmern zuerst im EKG zu bestätigen, bevor eine blutverdünnende Behandlung eingeleitet wird. Auch Smartwatches können seltene Rhythmusstörungen, die dem Vorhofflimmern ähnlich sind, feststellen. Um beurteilen zu können, ob in diesen Fällen eine Blutverdünnung nötig ist, bedarf es weiterer Studien.“

Prof. Andreas Götte, St. Vincenz-Krankenhaus Paderborn, aus dem Leitungsgremium der NOAH – AFNET 6 Studie sagt abschließend: „Unsere Ergebnisse untermauern Daten aus anderen Studien, die bereits vermuten ließen, dass Gerinnungshemmer bei Patient:innen mit AHRE möglicherweise weniger wirksam Schlaganfälle verhindern als bisher angenommen. Weitere Forschung ist nötig, um herauszufinden, welche Patient:innen mit AHRE ein hohes Schlaganfallrisiko haben und wie sie am besten behandelt werden sollten.“

NOAH – AFNET 6 erhielt finanzielle Unterstützung von Daiichi Sankyo Europe und dem Deutschen Zentrum für Herz- Kreislauf-Forschung (DZHK). Sponsor der Wissenschafts-initiierten Studie ist das AFNET.

Literatur
(1) Kirchhof P et al. Anticoagulation with Edoxaban in Patients with Atrial High Rate Episodes. NEJM 25 August 2023. doi: 10.1056/NEJMoa2303062
(2) Toennis T et al. The influence of atrial high rate episodes on stroke and cardiovascular death – an update. Europace 22 June 2023. doi: 10.1093/europace/euad166
(3) Kirchhof P et al. Probing oral anticoagulation in patients with atrial high rate episodes: Rationale and design of the Non–vitamin K antagonist Oral anticoagulants in patients with Atrial High rate episodes (NOAH – AFNET 6) trial, Am Heart J. 2017;190:12-18. doi: 10.1016/j.ahj.2017.04.015

Kompetenznetz Vorhofflimmern e.V. (AFNET)
Das Kompetenznetz Vorhofflimmern e.V. (AFNET) ist ein interdisziplinäres Forschungsnetz, in dem Wissenschaftler:innen und Ärzt:innen aus Kliniken und Praxen deutschlandweit zusammenarbeiten. Ziel des Netzwerks ist es, die Behandlung und Versorgung von Patient:innen mit Vorhofflimmern in Deutschland, Europa und weltweit durch koordinierte Forschung zu verbessern. Dazu führt das Kompetenznetz Vorhofflimmern e.V. wissenschaftsinitiierte, nicht-kommerzielle, klinische Studien (investigator initiated trials = IIT) und Register auf nationaler und internationaler Ebene sowie translationale Forschungsprojekte durch. Der Verein ist aus dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Kompetenznetz Vorhofflimmern hervorgegangen. Seit Januar 2015 werden einzelne Projekte und Infrastrukturen des AFNET vom Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK) sowie einige Projekte aus EU-Forschungsmitteln gefördert. Das AFNET verfügt über langjährige Erfahrung in der Behandlung von Vorhofflimmern, unterstützt aber auch Forschungsarbeiten in anderen Bereichen, die für die kardiovaskuläre Versorgung relevant sind. Die Erkenntnisse aus der mittlerweile 20jährigen klinischen und translationalen Forschung des Forschungsnetzes haben das Leben von Patient:innen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen verbessert und Behandlungsleitlinien beeinflusst.

Finanzierung: AFNET, DZHK, Daiichi Sankyo
Registrierung: NCT 02618577, ISRCTN 17309850

Kompetenznetz Vorhofflimmern e.V. (AFNET)
Mendelstraße 11
48149 Münster
Tel.: 0251 9801330
info@kompetenznetz-vorhofflimmern.de

Pressekontakt
Dr. Angelika Leute
Tel: 0202 2623395
a.leute@t-online.de


Originalpublikation:

Kirchhof P et al. Anticoagulation with Edoxaban in Patients with Atrial High Rate Episodes. NEJM 25 August 2023. doi: 10.1056/NEJMoa2303062


Weitere Informationen:

http://www.kompetenznetz-vorhofflimmern.de


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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch


 

Quelle: IDW