Immunzellen außer Kontrolle: wie ein neuer Gendefekt zu massiv überschießender Immunreaktion führt



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20.04.2021 10:03

Immunzellen außer Kontrolle: wie ein neuer Gendefekt zu massiv überschießender Immunreaktion führt

WissenschaftlerInnen der St. Anna Kinderkrebsforschung entdecken gemeinsam mit KollegInnen aus Finnland und Schweden eine neue Form einer Erbkrankheit: Ein genetisch bedingter Mangel des Proteins RhoG hebt die normale zytotoxische Funktion bestimmter Immunzellen auf. Dadurch wird eine lebensbedrohliche Krankheit namens hämophagozytische Lymphohistiozytose (HLH) ausgelöst. Diese neuen Erkenntnisse können bei der genetischen Diagnose für PatientInnen mit klinischem Verdacht auf HLH helfen. Die in der hochrangigen Fachzeitschrift Blood veröffentlichte Studie bietet die Grundlage sowohl für ein tieferes Verständnis der Biologie der HLH als auch für die Erforschung neuer therapeutischer Ansätze.

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Im Rahmen einer internationalen Zusammenarbeit finden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der St. Anna Kinderkrebsforschung eine neue Entstehungsform einer Erkrankung namens familiäre hämophagozytische Lymphohistiozytose (HLH). Die familiäre oder genetisch bedingte HLH, die meist in der frühen Kindheit auftritt, ist eine der dramatischsten hämatologischen Erkrankungen. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass bestimmte Immunzellen, nämlich T-Lymphozyten und natürliche Killerzellen (NK) nicht mehr fähig sind, eine z.B. von Viren infizierte Zielzelle abzutöten. In der Folge kann der Körper biologische Botenstoffe (sogenannte Zytokine) ausschütten, die eine massive Immunaktivierung und überschießende Abwehrreaktion (=Hyperinflammation) im gesamten Körper hervorrufen. “Unbehandelt kann die mit HLH verbundene Hyperinflammation in kurzer Zeit tödlich sein”, sagt Assoc.-Prof. Dr. Kaan Boztug, wissenschaftlicher Direktor der St. Anna Kinderkrebsforschung und Seniorautor der Studie.

Bis vor kurzem waren vier Subtypen der familiären HLH bekannt. Sie werden durch Mutationen in Genen verursacht, die an der Regulierung der Immunabwehr beteiligt sind. „Jetzt haben wir einen neuen Typ dieser Krankheit entdeckt, der durch vererbte Mutationen in dem Gen verursacht wird, das für das Protein RhoG kodiert”, erklärt der Erstautor der Studie, Dr. Artem Kalinichenko, der als Senior Postdoc an der St. Anna Kinderkrebsforschung und dem Ludwig Boltzmann Institut für seltene und undiagnostizierte Erkrankungen (LBI-RUD) forscht.
Das Forschungsteam zeigt, wie ein Mangel an RhoG spezifisch die zytotoxische Funktion von T-Lymphozyten und NK-Zellen beeinträchtigt. Das führt zu deren unkontrollierter Aktivierung und verursacht letztlich HLH.

Insbesondere beeinträchtigt der RhoG-Mangel den Prozess der Exozytose in bestimmten Immunzellen und setzt deren Tötungsfähigkeit außer Kraft. So nutzen Immunzellen wie T- und NK-Zellen die Exozytose zur Freisetzung zytotoxischer Moleküle, um infizierte oder Tumorzellen anzugreifen und abzutöten. Wenn der RhoG-Mangel diese Funktion in Immunzellen lahmlegt, können sie ihre Zielzellen nicht wie vorgesehen abtöten. “Welche Rolle dies für eine Neigung zur Entwicklung von Krebs hat, werden wir noch detaillierter untersuchen “, sagt Kalinichenko.

RhoG reguliert die Fähigkeit von Zellen, Erreger abzutöten
In ihrer Studie untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen Säugling, der im Alter von vier Monaten eine schwere HLH entwickelte. Während die Krankheit mit einer gestörten Zytotoxizität von T- und NK-Zellen einherging, wurden keine Mutationen in bekannten HLH-assoziierten Genen gefunden. Weitere genetische Analysen ergaben aber gesundheitsschädliche Mutationen in dem Gen, das für RhoG kodiert. Durch experimentelles Ausschalten von RhoG im Labor bestätigten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die bisher unbekannte Rolle von RhoG bei der zytotoxischen Funktion menschlicher Lymphozyten. Trotz einer drastischen und spezifischen Auswirkung auf die zytotoxische Funktion beeinträchtigt der RhoG-Mangel keine anderen Funktionen der Immunzellen, die für die Krankheitsentwicklung eine Rolle spielen.

“In unserer Studie entdeckten wir eine zentrale Rolle der RhoG-Interaktion mit einem Exozytose-Protein namens Munc13-4, das für die Verankerung der zytotoxischen Granula an der Plasmamembran essenziell ist”, erklärt Boztug. Dieses Andocken ist ein kritischer Schritt in der Exozytose. Es ist notwendig für die weitere Fusion der Vesikel mit der Plasmamembran und die Freisetzung der zytotoxischen Granula.
“Unsere Studie identifiziert RhoG als einen neuen essenziellen Regulator der humanen Lymphozyten-Zytotoxizität und liefert den molekularen Pathomechanismus hinter dieser bisher unbekannten genetisch bedingten Form der hämophagozytären Lymphohistiozytose”, resümiert Boztug.

Schnelleres Screening für Patient(inn)en
“Wir hoffen, dass unser Verständnis der molekularen Pathomechanismen von HLH langfristig die Behandlung der Krankheit und die Prognose verbessern kann”, sagt Boztug. Als kurzfristige Konsequenz kann der hier entdeckte RhoG-Mangel HLH-Patientinnen und -Patienten eine raschere genetische Diagnose ermöglichen.

Diese Studie ist ein spannender Durchbruch, der neue wichtige wissenschaftliche Fragen aufwirft. “Die Entdeckung des RhoG-Mangels hat neue Einblicke in die molekularen Funktionen dieses Proteins eröffnet und hochrelevante Fragen aufgeworfen. Wir haben herausgefunden, dass RhoG sowohl das ‘Zell-Skelett’ als auch die Exozytose-Maschinerie reguliert. Jetzt sind wir sehr daran interessiert zu erfahren, wie RhoG deren Aktivität in Raum und Zeit koordiniert und was das für Konsequenzen hat”, sagt Kalinichenko.

Gemeinsame Forschung an seltenen Krankheiten
Diese wissenschaftliche Arbeit wurde durch die Zusammenarbeit der St Anna Kinderkrebsforschung mit dem LBI-RUD, dem CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Medizinischen Universität Wien und internationalen Partnerinnen und Partnern ermöglicht. Besonderer Dank geht an die Co-Seniorautorinnen und -autoren Janna Saarela (Institute for Molecular Medicine Finland, Helsinki, Finland, and Centre for Molecular Medicine Norway, Oslo, Norwegen) und Mikko R.J. Seppänen (Rare Diseases Center, Children’s Hospital, University of Helsinki, Finnland) sowie Yenan T. Bryceson (Karolinska Institute, Stockholm, Schweden). Der Patient wurde in die laufende FINPIDD-Studienreihe aufgenommen und wird in der Universitätsklinik Helsinki medizinisch versorgt.

Publikation:
RhoG deficiency abrogates cytotoxicity of human lymphocytes and causes hemophagocytic lymphohistiocytosis
Artem Kalinichenko, Giovanna Perinetti Casoni*, Loic Dupre*, Luca C. Trotta*, Jakob Huemer, Donatella Galgano, Yolla German, Ben Haladik, Julia Pazmandi, Marini Thian, Özlem Yüce Petronczki, Samuel C.C Chiang, Mervi H Taskinen, Anne Hekkala, Saila Kauppila, Outi Lindgren, Terhi Tapiainen, Michael J. Kraakman, Kim Vettenranta, Alexis J. Lomakin, Janna Saarela§ , Mikko R J Seppänen§, Yenan T Bryceson§, Kaan Boztug§‡
* these authors contributed equally
§ these authors contributed equally
‡ Corresponding author: Kaan Boztug
Blood 2021: 137 (15): 2033–45. Doi: blood.2020008738.
https://doi.org/10.1182/blood.2020008738

Förderung:
Diese Arbeit erhielt Fördergelder vom Europäischen Forschungsrat (ERC) über den ERC Consolidator Grant “iDysChart” (Kaan Boztug), vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) mit dem Projekt LS14-031 (Kaan Boztug), von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) mit dem DOC Fellowship Programm 25365 (Jakob Huemer) und 25225 (Marini Thian), von der Finnish Foundation for Pediatric Research and Pediatric Research Center, von der Helsinki University Hospital (Mikko RJ. Seppänen), und dem Swedish Research Council, der Cancer Foundation, der Children’s Cancer Foundation, sowie der Knut and Alice Wallenberg Foundation (YenanT. Bryceson).

Photo:
Dr. Artem Kalinichenko, Assoc.-Prof. Dr. Kaan Boztug
Bildrechte: St. Anna Kinderkrebsforschung

Über die St. Anna Kinderkrebsforschung
Die St. Anna Kinderkrebsforschung (St. Anna Children’s Cancer Research Institute, St. Anna CCRI) ist eine internationale und interdisziplinäre Forschungseinrichtung, die das Ziel verfolgt, durch innovative Forschung sowie diagnostische, prognostische und therapeutische Strategien die Behandlung von an Krebs erkrankten Kindern und Jugendlichen weiterzuentwickeln und weltweit zu verbessern. Dabei wird der Schwerpunkt auf die spezifischen Besonderheiten kindlicher Tumorerkrankungen gelegt, um den jungen Patientinnen und Patienten die bestmöglichen und innovativsten Therapien zur Verfügung stellen zu können. Die Forschungsschwerpunkte der St. Anna Kinderkrebsforschung liegen auf den Gebieten der Tumorgenomik und -epigenomik, der Immunologie, der Molekularbiologie, der Zellbiologie, der Bioinformatik und der klinischen Forschung, um neueste wissenschaftlich-experimentelle Erkenntnisse mit den klinischen Bedürfnissen der Ärztinnen und Ärzte in Einklang zu bringen und so unser übergeordnetes Ziel zu erreichen, das Wohlergehen der Patientinnen und Patienten nachhaltig zu verbessern.
Weitere Informationen:
www.ccri.at
www.kinderkrebsforschung.at

Über das Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases
Das Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD) wurde von der Ludwig Boltzmann Gesellschaft im April 2016 in Zusammenarbeit mit dem CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Medizinischen Universität Wien und der St. Anna Kinderkrebsforschung gegründet. Die drei Partnerinstitutionen stellen gemeinsam mit dem CeRUD die wichtigsten Kooperationspartner des LBI-RUD dar, dessen Forschungsschwerpunkt auf der Entschlüsselung von seltenen Erkrankungen des Immunsystems, der Blutbildung, und des Nervensystems liegt – diese Arbeiten bilden nicht nur die Basis für die Entwicklung von personalisierten Therapieansätzen für die unmittelbar Betroffenen, sondern liefern darüber hinaus einzigartige und neue Einblicke in die Humanbiologie. Das Ziel des LBI-RUD ist es, unter Einbeziehung der Expertise seiner Partnerorganisationen ein koordiniertes Forschungsprogramm zu etablieren, das neben den wissenschaftlichen auch gesellschaftliche, ethische und ökonomische Gesichtspunkte seltener Erkrankungen einbezieht und berücksichtigt.
Weitere Informationen: www.rarediseases.at

Über das CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Das CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist eine internationale, unabhängige und interdisziplinäre Forschungseinrichtung für molekulare Medizin unter wissenschaftlicher Leitung von Giulio Superti-Furga. Das CeMM orientiert sich an den medizinischen Erfordernissen und integriert Grundlagenforschung sowie klinische Expertise um innovative diagnostische und therapeutische Ansätze für eine Präzisionsmedizin zu entwickeln. Die Forschungsschwerpunkte sind Krebs, Entzündungen, Stoffwechsel- und Immunstörungen sowie seltene Erkrankungen. Das Forschungsgebäude des Institutes befindet sich am Campus der Medizinischen Universität und des Allgemeinen Krankenhauses Wien.
Weitere Informationen: www.cemm.at

Über die Medizinische Universität Wien
Die Medizinische Universität Wien (MedUni Wien) ist eine der traditionsreichsten medizinischen Ausbildungs- und Forschungsstätten Europas. Mit rund 8.000 Studierenden ist sie heute die größte medizinische Ausbildungsstätte im deutschsprachigen Raum. Mit 5.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, 30 Universitätskliniken und zwei klinischen Instituten, 12 medizintheoretischen Zentren und zahlreichen hochspezialisierten Laboratorien zählt sie auch zu den bedeutendsten Spitzenforschungsinstitutionen Europas im biomedizinischen Bereich.
Weitere Informationen: www.meduniwien.ac.at


Originalpublikation:

RhoG deficiency abrogates cytotoxicity of human lymphocytes and causes hemophagocytic lymphohistiocytosis
Artem Kalinichenko, Giovanna Perinetti Casoni*, Loic Dupre*, Luca C. Trotta*, Jakob Huemer, Donatella Galgano, Yolla German, Ben Haladik, Julia Pazmandi, Marini Thian, Özlem Yüce Petronczki, Samuel C.C Chiang, Mervi H Taskinen, Anne Hekkala, Saila Kauppila, Outi Lindgren, Terhi Tapiainen, Michael J. Kraakman, Kim Vettenranta, Alexis J. Lomakin, Janna Saarela§ , Mikko R J Seppänen§, Yenan T Bryceson§, Kaan Boztug§‡
*/§ these authors contributed equally
‡ Corresponding author: Kaan Boztug
Blood 2021: 137 (15): 2033–45. Doi: blood.2020008738.
https://doi.org/10.1182/blood.2020008738


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch


Quelle: IDW