13.06.2019 12:00
Aufarbeitungsprojekt: Pathologie und Pathologinn/en im Nationalsozialismus
(veröffentlicht mit Sperrfrist bis 13. Juni 2019)
Im Frühjahr 2018 hat die Deutsche Gesellschaft für Pathologie e.V. (DGP) das Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Uniklinik RWTH Aachen beauftragt, die Pathologie im Nationalsozialismus zu erforschen. Der Fokus der geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung in diesem ersten umfassenden Projekt zum Thema war zweigeteilt – einmal in eine Betrachtung der Opfer unter den Pathologinnen und Pathologen und einmal in eine Betrachtung der Deutschen Gesellschaft für Pathologie und ihrer Repräsentanten zur Zeit des NS-Regimes.
Teilprojekt 1 fokussiert auf die Vertreibung, Entrechtung und Verfolgung von Pathologen im „Dritten Reich“ – und damit auf eine Personengruppe, die bis dato in der Forschung kaum systematische Beachtung fand.
Während die Ausgrenzung mancher fachärztlicher Gruppen mittlerweile gut untersucht ist, fehlen bisher quantifizierende und systematisierende Studien zur Entrechtung der Pathologen. Diese Forschungslücke soll nun geschlossen werden. Das Teilprojekt 1 stellt die Frage nach der Zahl der verfolgten Pathologen, nach den übergreifenden Gemeinsamkeiten dieses Personenkreises, nach den Auswirkungen der Repressionen auf die weiteren Lebensverläufe der Pathologen sowie auch nach der Involvierung der Deutschen Gesellschaft für Pathologie – sowohl in der Zeitphase 1933 bis 1945 als auch in der Nachkriegszeit.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Auf Grundlage von Primärquellen aus zahlreichen Archiven sowie einer systematischen Reanalyse der publizierten Sekundärliteratur zur Geschichte der NS-Medizin konnten 89 entrechtete Pathologen ermittelt und in die Studie einbezogen werden (s. Anlage 1: Gesamtliste der entrechteten Pathologen).
Die große Mehrheit der Pathologen (86%) wurde aufgrund ihrer jüdischen Abstammung verfolgt. Gut zwei Drittel der Pathologen waren bis zu ihrer Entrechtung an einer Universität beschäftigt.
Zwei Drittel der untersuchten Pathologen (n = 62; 70%) entschlossen sich nachweislich zur Emigration; 24 Personen verblieben im Heimatland; fünf dieser Pathologen fanden in Konzentrationslagern den Tod, zwei weitere entschlossen sich zum Suizid.
Bevorzugtes direktes Immigrationsland war die USA (n = 35), gefolgt von Großbritannien (n = 16). Während sich die meisten der untersuchten Pathologen im Zielland beruflich etablieren konnten, zeigten sie nach 1945 kaum eine Neigung zur Remigration. Gründe hierfür waren mangelnde Karriereoptionen im Heimatland, eine fehlende Willkommenskultur der dortigen Kollegen und Universitäten sowie stigmatisierende Erfahrungen einzelner Pathologen in den Berufungs- und „Wiedergutmachungsverfahren“ in Deutschland. Dagegen wurden ihnen – vor allem in den letzten Jahrzehnten und z.T. posthum – in Deutschland und Österreich vermehrt immaterielle Würdigungen zuteil (s. Anlage 2: Immaterielle Ehrungen an entrechtete Pathologen nach 1945). Auch wenn diese Ehrungen keine Wiedergutmachung mehr leisten konnten, sind sie doch Zeichen eines schleichenden Bewusstseinswandels.
Zu vier der erfassten verfolgten Pathologen (Berblinger, Pagel, Popper und Schwartz) sind Einzelstudien erstellt und veröffentlicht worden bzw. in Publikation begriffen (s. Anlage 3: Übersicht der wiss. Veröffentlichung zum Projekt).
Im Teilprojekt 2 stehen die DGP (bis 1945: DPG) und ihre Repräsentanten im Fokus der Untersuchungen. Zum Ersten interessiert hierbei, wie die DGP im „Dritten Reich“ und nach 1945 mit den entrechteten Kollegen bzw. Mitgliedern umging, und zum Zweiten gilt es zu klären, welche politische Rolle ihre Präsidenten und Vorstandsmitglieder im Dritten Reich spielten.
Was den Umgang der Fachgesellschaft mit den entrechteten – jüdischen und/oder politisch andersdenkenden – Kollegen bzw. Mitgliedern im „Dritten Reich“ angeht, so lässt sich für das Jahr 1933 ein radikaler Politikwechsel nachweisen: Zum Zeitpunkt der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten fungierte der jüdische Pathologe Gotthold Herxheimer als Vorsitzender der DGP; er war vor der Machtergreifung im April 1931 gewählt worden. Herxheimers erzwungenem Rücktritt (1933) folgte die Gleichschaltung der Gesellschaft; seit 1934 standen alle Wahlen und Beschlüsse der Gesellschaft unter dem Vorbehalt des NS- Regimes.
Insgesamt konnten 59 Personen ausgemacht werden, welche a) im „Dritten Reich“ als Arzt bzw. Pathologe tätig waren bzw. wurden und b) vor 1933, zwischen 1933 und 1945 oder nach 1945 ein führendes Amt in der DGP (Vorsitzende, Jahrespräsidenten, Beisitzer) innehatten (vgl. Tabelle DGP-Repräsentanten). Paul Ernst (1926) war hierbei der erste, Gerhard Seifert (1986) der letzte DGP-Vorsitzende im untersuchten Kollektiv. Der 1933 abgesetzte Herxheimer war der einzige DGP-Präsident jüdischer Herkunft.
Bei 47 der übrigen 58 DGP-Repräsentanten konnte quellenkundlich verbindlich geklärt werden, ob sie Parteimitglieder waren oder nicht: 30 dieser 47 Pathologen gehörten demnach nachweislich der Partei an, die übrigen 17 waren ebenso sicher kein Parteimitglied. Dies entspricht einer NSDAP-Quote von 64 Prozent. Allerdings dürfte das Gros der elf Personen, für die weder Hinweise auf eine Mitgliedschaft noch gegenteilige Belege nachweislich waren, kein Parteimitglied gewesen sein. Sofern man also unterstellt, dass in allen elf offenen Fällen keine Mitgliedschaft vorlag, beträgt die NSDAP-Mitgliederquote der 58 DGP-Repräsentanten (Herxheimer ausgenommen) immer noch 52 Prozent. Beide Prozentsätze liegen über der durchschnittlichen NSDAP-Quote der gesamten ärztlichen Berufsgruppe, die sich nach Hochrechnungen von Michael Kater auf ca. 45 Prozent beläuft – und damit ohnehin höher ausfällt als bei allen anderen Berufsgruppen, denn die Ärzteschaft verzeichnete den mit Abstand höchsten Anteil an Parteimitgliedern (Vergleichsgruppe Lehrer: 25 %).
Erwähnenswert ist insbesondere, dass die große Mehrheit der NSDAP-Mitglieder erst in der Bundesrepublik Deutschland zu DGP-Präsidenten ernannt wurden. Mit anderen Worten: eine frühere NSDAP-Mitgliedschaft war offenkundig kein Hindernis für eine Präsidentschaft. Auffällig ist auch, dass DGP-Verantwortliche noch im Nachkriegsdeutschland die Wiedergutmachungsansprüche emigrierter jüdischer Kollegen konterkarierten – so der DGP-Präsident von 1962, Carl Krauspe, die Ansprüche der jüdischen Kollegen Paul Kimmelstiel und Friedrich Wohlwill.
Das Teilprojekt 2 ist noch nicht vollständig beendet. Während die Erhebungen bereits abgeschlossen sind, dauern die Auswertungen noch an. Abschließende Ergebnisse sind hier bis zum Projektabschluss im Herbst 2019 zu erwarten.
Bis dato wurden neben den Resultaten zur übergeordneten Querschnittstudie auch noch Einzelbiografien zu den ehemaligen DGP-Präsidenten Borst, Dietrich, Hamperl, Krauspe und Müller erstellt. Während sich die Aufsätze zu Dietrich und Müller noch in der Revision befinden (Organ: Der Pathologe), sind diejenigen zu Borst, Hamperl und Krauspe bereits veröffentlicht (s. Anlage 3: Übersicht der wiss. Veröffentlichung zum Projekt).
Pressekonferenz und Ausstellung
Die Ergebnisse des wissenschaftlichen Aufarbeitungsprojektes werden am 13. Juni 2019 um 10:30 Uhr im Kap Europa in Frankfurt am Main im Rahmen der 103. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Pathologie in einer Pressekonferenz vorgestellt. Die Jahrestagung wird außerdem vom 13. bis 15. Juni 2019 von einer Ausstellung zum Thema begleitet.
Um vorherige Anmeldung wird gebeten unter: geschaeftsstelle@pathologie-dgp.de
Bitte melden Sie sich vor Ort im Kap Europa außerdem an der Registrierung. Vielen Dank!
Anlagen (im Anhang):
Anlage 1: Gesamtliste der entrechteten Pathologen
Anlage 2: Immaterielle Ehrungen an entrechtete Pathologen nach 1945
Anlage 3: Übersicht der wiss. Veröffentlichung zum Projekt (Aachen)
Anlage 4: DGP-Repräsentanten, die im Dritten Reich als Ärzte bzw. Pathologen wirkten (DGP-Funktion, NSDAP-Mitgliedschaft)
Nach der Pressekonferenz stellen wir Ihnen gern Fotomaterial zur Veranstaltung zur Verfügung.
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Medien-Angebot: Gern stehen Ihnen die Projektverantwortlichen für ein Interview bereit.
Bei Veröffentlichung bitten wir um Zusendung eines Beleges. Vielen Dank!
Informationsnachweis:
Deutsche Gesellschaft für Pathologie e.V. (DGP), Robert-Koch-Platz 9, 10115 Berlin
Tel.: 030 / 25 76 07 27
E-Mail: geschaeftsstelle@pathologie-dgp.de
Homepage: www.pathologie-dgp.de
Presse-Kontakt:
Beatrix Zeller
Referentin für Öffentlichkeitsarbeit und Mitgliederangelegenheiten
Deutsche Gesellschaft für Pathologie e. V.
Robert-Koch-Platz 9
10115 Berlin
Tel.: +49 30 2576 0727
E-Mail: geschaeftsstelle@pathologie-dgp.de
www.pathologie-dgp.de
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik Groß
Wiss. Leiter des Projektes, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Uniklinik RWTH Aachen
Originalpublikation:
s. Anlage 3 im Anhang
Weitere Informationen:
https://www.pathologie-dgp.de/die-dgp/aktuelles/meldung/pressemitteilung-aufarbe…
Anhang
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler, jedermann
Geschichte / Archäologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch