Aus den Augen, schnell aus dem Sinn



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08.07.2022 08:48

Aus den Augen, schnell aus dem Sinn

Objekte in zentraler Blickrichtung können wir sehr schlecht aus dem Kurzzeitgedächtnis abrufen – obwohl wir diesen Bereich am schärfsten sehen, berichten Tübinger Hirnforschende

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Unser Sehvermögen ist im Bereich der Sehgrube (lat. Fovea centralis) am schärfsten. Paradoxerweise können wir diesen Teil des Gesichtsfeldes extrem schlecht aus dem Kurzzeitgedächtnis abrufen. Das ist das Ergebnis einer Studie von Professor Dr. Ziad Hafed und seinem Team vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und dem Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften der Universität Tübingen. Die neuen Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung sind sowohl für das medizinische Verständnis von Erkrankungen als auch für die technologische Anwendung interessant. Die Forschenden haben ihren Befund in der Fachzeitschrift PNAS publiziert.

„Wir Menschen verlassen uns in hohem Maße auf das foveale Sehen“, erklärt Erstautor Konstantin Willeke. „Das ist der Bereich, auf den wir unseren Blick richten. Hier sehen wir Objekte am schärfsten. Menschen und Gegenstände, die außerhalb unserer Blickrichtung liegen, nehmen wir mit zunehmendem Abstand verschwommener wahr.“ Zur Veranschaulichung empfiehlt Willeke folgenden Selbsttest: Wenn wir jemandem direkt in die Augen schauen und ihn bitten, farbige Stifte neben sein Ohr zu halten, erkennen wir nicht, wie viele Stifte er hochhält oder welche Farben sie haben. Die Augenfarbe unseres Gegenübers könnten wir stattdessen problemlos beschreiben.

Doch scheinen nicht alle Sehinformationen aus der zentralen Blickrichtung anschließend gut im Gedächtnis zu bleiben. Das stellten die Tübinger Hirnforschenden fest, als sie untersuchten, mit welcher Genauigkeit foveale Bilder im Kurzzeitgedächtnis repräsentiert werden.

Sie präsentierten gesunden Versuchspersonen einen kleinen Lichtreiz auf einem Bildschirm. Dieser konnte an ganz unterschiedlichen Stellen erscheinen. Nachdem er verschwunden war, sollten die Personen aus dem Gedächtnis die Position angeben.

Das Ergebnis: Die größten Abweichungsfehler machten die Versuchspersonen bei den Lichtreizen, die im Bereich des fovealen Sehens präsentiert wurden. „Das lässt vermuten, dass die Repräsentation im Kurzzeitgedächtnis stark verzerrt ist,“ so Studienleiter Hafed. „Die Verzerrungen spiegeln wahrscheinlich den Aufbau unseres Sehsystems wider.“

Um eine hohe visuelle Auflösung zu erreichen, würden Sehreize aus der Sehgrube von einer verhältnismäßig großen Anzahl an Nervenzellen im Gehirn verarbeitet. Ihre mentale Repräsentation sei daher vergrößert. Reize aus den Randbereichen des Gesichtsfeldes würden hingegen von weniger Nervenzellen verarbeitet, ihre mentale Repräsentation sei folglich kleiner. „Orientiert sich die Versuchsperson bei der Gedächtnisaufgabe im mentalen Raum und überträgt die Entfernungen dann auf die Außenwelt, kommt es zu den relativen Abweichungsfehlern“, erklärt Hafed. „Diese sind für foveale Sehreize logischerweise größer als für Sehreize aus der Peripherie.“

Die neuen Erkenntnisse sind hilfreich, um neurologische Erkrankungen besser zu verstehen, bei denen etwa die Körperwahrnehmung gestört ist. Sie sind ebenfalls für den IT-Bereich interessant. So könnten sie helfen, virtuelle Realitäten zu optimieren. Die präsentierten Bilder könnten mithilfe eines Eyetrackers – eines Geräts, das Blickbewegungen aufzeichnet und analysiert – etwa so aufgebaut werden, dass bestimmte Bereiche besser oder schlechter erinnert würden.

„Als Menschen empfinden wir das Sehen als mühelos,“ sagt Hafed. „Das ist aber eine Illusion. Hinter unserem subjektiven Gefühl verbirgt sich eine enorm komplexe rechnerische Verarbeitung im Gehirn.“ Neben Hafed und Willeke waren Dr. Araceli Cardenas und Dr. Joachim Bellet an der Studie beteiligt.


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Ziad M. Hafed
Universität Tübingen
Hertie-Institut für klinische Hirnforschung

Telefon +49 7071 29-88819
ziad.m.hafed[at]cin.uni-tuebingen.de


Originalpublikation:

Willeke, K.F et al. (2022): Severe distortions in the representation of foveal visual image locations in short-term memory. PNAS 119 (24) e2121860119
doi: https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2121860119


Weitere Informationen:

http://www.hih-tuebingen.de Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
https://uni-tuebingen.de Eberhard Karls Universität Tübingen


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler, jedermann
Biologie, Medizin, Psychologie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch


Quelle: IDW