Nicht nur Lebensstil und Gene: Weiterer Einflussfaktor für Übergewicht entdeckt



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19.07.2023 20:05

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

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Nicht nur Lebensstil und Gene: Weiterer Einflussfaktor für Übergewicht entdeckt

Was bestimmt, ob wir fettleibig werden? Neben dem Lebensstil wirkt sich auch die Veranlagung aus, die Gene aber können den ererbten Hang zum Übergewicht nicht vollständig erklären. Eine Studie der Charité – Universitätsmedizin Berlin in Science Translational Medicine* zeigt jetzt, dass auch eine Art Formatierung des DNA-Codes eines Sättigungsgens mit einem leicht erhöhten Risiko für Fettleibigkeit einhergeht – zumindest bei Frauen. Diese sogenannte epigenetische Markierung wird bereits in der frühen Embryonalphase etabliert.

Übergewicht, insbesondere starkes, steigert das Risiko für eine Reihe von schwerwiegenden Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Krebs. Das Gesundheitsproblem wächst: Weltweit nimmt die Zahl übergewichtiger Menschen zu, in Deutschland geht man davon aus, dass zwei von drei Männern (60 Prozent) und knapp die Hälfte der Frauen (45 Prozent) zu viele Kilos auf die Waage bringen.

Was aber bestimmt, ob Menschen übergewichtig werden? Klar ist: Neben dem Lebensstil spielt Veranlagung eine große Rolle. Bei eineiigen Zwillingen ähnelt sich der Body-Mass-Index (BMI) zu 40 bis 70 Prozent. Auch wenn sie nicht in der gleichen Familie aufwachsen, bleibt diese große Ähnlichkeit bestehen. Mittlerweile sind mehrere Genvarianten bekannt, die das Gewicht beeinflussen – und damit das Risiko, Fettleibigkeit (Adipositas) zu entwickeln. Zusammengenommen können sie jedoch die beobachtete Erblichkeit nicht erklären. Forschende vermuteten deshalb, dass es zusätzliche, nichtgenetische Faktoren geben muss, die sich auf den Hang zum Übergewicht auswirken.

Sättigungsgen wird nicht abgeändert, sondern formatiert

Einen solchen haben Forschende um Prof. Dr. Peter Kühnen, Direktor der Klinik für pädiatrische Endokrinologie der Charité, in ihrer aktuellen Studie nun identifiziert. Demnach steigt das Risiko für Fettleibigkeit bei Frauen um etwa 44 Prozent, wenn an dem für das Sättigungsgefühl verantwortlichen Gen POMC (Proopiomelanocortin) besonders viele Methylgruppen haften. Methylgruppen sind kleine chemische Einheiten, mit denen der Körper die Buchstaben des DNA-Codes markiert, um Gene an- oder auszuschalten, ohne die DNA-Buchstabenfolge zu ändern. Ein Vergleich: Die Wirkung ähnelt der Hervorhebung eines Abschnitts in einem Text, ohne dass der Text umgeschrieben wird. Bezeichnet wird diese Art der „DNA-Formatierung“ als epigenetische Markierung.

Für die Studie hatte das Forschungsteam die „Formatierung“ des POMC-Gens bei mehr als 1.100 Menschen analysiert. Bei adipösen Frauen mit einem BMI über 35 fanden sich mehr Methylgruppen an dem Sättigungsgen als bei normalgewichtigen Frauen. „Eine Erhöhung des Adipositas-Risikos um 44 Prozent entspricht etwa dem Effekt, den man auch bei einzelnen Genvarianten beobachtet hat“, sagt Studienleiter Prof. Kühnen. „Im Vergleich wirken sich sozioökonomische Faktoren allerdings deutlich stärker aus, sie können das Risiko um das Zwei- bis Dreifache erhöhen. Warum der Effekt der Methylierung nur bei Frauen zum Tragen kommt, wissen wir noch nicht.“

Das POMC-Gen wird bereits sehr früh in der embryonalen Entwicklung „formatiert“, wie die Forschenden durch einen Vergleich von Methylierungsmustern bei jeweils mehr als 30 eineiigen und zweieiigen Zwillingen nachwiesen. Während die „Formatierung“ des Sättigungsgens bei eineiigen Zwillingen in den meisten Fällen übereinstimmte, korrelierte sie bei zweieiigen Zwillingen kaum. „Das deutet darauf hin, dass die epigenetische Markierung des POMC-Gens schon kurz nach dem Verschmelzen von Ei- und Samenzelle etabliert wird, noch bevor sich die befruchtete Eizelle in zwei Zwillingsembryonen aufteilt“, erklärt Lara Lechner, Erstautorin der Studie von der Klinik für pädiatrische Endokrinologie. Die ganz frühe Phase einer Schwangerschaft ist also bereits entscheidend.

Was beeinflusst die Formatierung?

Doch was beeinflusst, wie stark das Sättigungsgen methyliert wird – und damit das Risiko für Übergewicht? Vergangene Studien hatten darauf hingedeutet, dass sich die An- oder Abwesenheit bestimmter Nährstoffe, die als Lieferanten für Methylgruppen dienen, möglicherweise auf epigenetische Prozesse auswirken könnten. Zu diesen Nährstoffen zählen beispielsweise Betain, Methionin oder Folsäure, die für gewöhnlich über die Nahrung aufgenommen werden. Eine neu entwickelte Methode erlaubte es den Charité-Wissenschaftler:innen nun erstmals, im Labor mithilfe von einzelnen menschlichen Stammzellen nachzuahmen, wie das Methylierungsmuster in der Embryonalentwicklung festgelegt wird und welchen Einfluss Nährstoffe darauf haben.

„Unsere und auch andere Studien zeigen einerseits, dass Folsäure, Betain und andere Nährstoffe sich in begrenztem Maße auf den Umfang der Methylierung auswirken“, sagt Prof. Kühnen. „Wir haben dabei beobachtet, dass das ‚DNA-Formatierungssystem‘ insgesamt recht stabil ist und kleinere Schwankungen im Nährstoffangebot von den Zellen kompensiert werden. Auf der anderen Seite gibt es Hinweise, dass sich die Variabilität dieser ‚Formatierung‘ zufällig entwickelt. Das bedeutet, dass man zumindest aktuell noch nicht von außen beeinflussen kann, ob eine Person mehr oder weniger Methylierung in der POMC-Region aufweist.“

Medikamentöse Hilfe potenziell möglich

Zumindest theoretisch könnte man Frauen, die aufgrund einer Methylierung des POMC-Gens ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Fettleibigkeit haben, medikamentös beim Abnehmen unterstützen. Darauf deuten erste Ergebnisse an vier hochadipösen Frauen und einem Mann mit eben dieser „Formatierung“ des Sättigungsgens hin. Sie erhielten einen spezifischen Wirkstoff, der in die Entstehung des Hungergefühls eingreift und für die Adipositas-Behandlung von Menschen mit einem mutierten, also fehlerhaften POMC-Gen zugelassen ist. Innerhalb von drei Monaten nach Start der Behandlung empfanden die fünf Patient:innen weniger Hunger und verloren im Schnitt sieben Kilogramm, also rund fünf Prozent ihres Körpergewichts. Einige von ihnen setzten die Behandlung länger fort und nahmen weiter ab.

„Diese Ergebnisse zeigen zunächst einmal, dass sich ein epigenetisch verändertes POMC-Gen überhaupt potenziell medikamentös adressieren lässt“, sagt Prof. Kühnen. „Weitere große kontrollierte Studien müssen zeigen, ob und wie wirksam und sicher die Behandlung mit dem Wirkstoff auch über einen längeren Zeitraum wäre. Insgesamt könnte ein solches Medikament jedoch nur Teil einer umfassenden Behandlungsstrategie sein.“

Über die Studie
Studienleiter Prof. Dr. Peter Kühnen ist Direktor der Klinik für pädiatrische Endokrinologie der Charité. Für seine Arbeiten zur Normalisierung des Körpergewichts hat der Heisenberg-Professor 2020 den mit 50.000 Euro dotierten Paul-Martini-Preis erhalten. Die aktuelle Studie ist im Rahmen eines Consolidator Grants des Europäischen Forschungsrats (ERC) entstanden, den Prof. Kühnen zur Untersuchung der Rolle der epigenetischen Variabilität beim Entstehen von Stoffwechsel- und endokrinen Erkrankungen eingeworben hat (E-VarEndo). Zusätzlich gefördert wurde die Arbeit unter anderem durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das SPARK-BIH-Programm des Berlin Institute of Health in der Charité (BIH) und ein BIH Promotionsstipendium.

*Lechner L et al. Early-set POMC methylation variability is accompanied by increased risk for obesity and is addressable by MC4R agonist treatment. Sci Transl Med 2023 Jul 19. doi: 10.1126/scitranslmed.adg1659


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Peter Kühnen
Direktor der Klinik für pädiatrische Endokrinologie
Charité – Universitätsmedizin Berlin
t: +49 30 450 566 352
E-Mail: peter.kuehnen@charite.de


Originalpublikation:

www.science.org/doi/10.1126/scitranslmed.adg1659


Weitere Informationen:

https://www.charite.de/service/pressemitteilung/artikel/detail/den_unstillbaren_… Den unstillbaren Hunger abschalten (Pressemitteilung v. 08.05.2018)
https://www.charite.de/service/pressemitteilung/artikel/detail/risikomarker_fuer… Risikomarker für die Entwicklung von Übergewicht (Pressemitteilung v. 28.08.2016)
https://kinder-endokrinologie.charite.de/ Klinik für pädiatrische Endokrinologie der Charité


Bilder

Aus menschlichen Stammzellen hergestellte Nervenzellen (rot und grün). In orange markierten Zellen ist das Sättigungsgen POMC aktiv. Blau: Zellkerne.

Aus menschlichen Stammzellen hergestellte Nervenzellen (rot und grün). In orange markierten Zellen i
© Charité | Lara Lechner
© Charité | Lara Lechner


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler, jedermann
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch


 

Quelle: IDW