Placebos wirken auch bei bewusster Einnahme



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22.02.2021 11:12

Placebos wirken auch bei bewusster Einnahme

Freiburger Forscher*innen zeigen: Scheinmedikamente funktionieren auch ohne Täuschung / Patient*innen waren über Placebo-Effekt vorab informiert / Metaanalyse im Fachmagazin Scientific Reports veröffentlicht

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Als Scheinmedikamente ohne pharmakologische Wirkstoffe kommen Placebos in klinischen Studien häufig als Vergleichsgröße zum Einsatz. Dass sie überraschend starke Effekte erzielen können, selbst wenn die Studienteilnehmer*innen das Placebo wissentlich einnehmen, konnten Wissenschaftler*innen aus dem Department für Psychische Erkrankungen des Universitätsklinikums Freiburg nun wissenschaftlich belegen. Der systematische Vergleich von 13 Studien mit insgesamt 834 Teilnehmer*innen zeigte einen signifikanten Effekt bewusst eingenommener Placebos, solange diese von zusätzlichen Informationen flankiert wurden. Die Metaanalyse erschien am 16. Februar 2021 im Open-Access-Journal Scientific Reports der Nature-Gruppe.

„Die bewusste Einnahme eines Placebos mag zwar etwas verrückt erscheinen, aber sie hat in diesen Studien gewirkt – und damit die gezielte Täuschung der Patient*innen unnötig gemacht“, sagt Prof. Dr. Stefan Schmidt, Leiter der Sektion Systemische Gesundheitsforschung an der Klinik für Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg. „Dass Placebos ohne pharmakologisch aktive Substanzen das Geschehen im Gehirn oder den Hormonhaushalt beeinflussen und erstaunliche Therapieerfolge erzielen können, wussten wir seit langem“, so Schmidt. Bisher wurde die Wirkung der Placebos jedoch der Erwartung der Patient*innen an ein aktives Medikament zugeschrieben. Neuere klinische Studien lieferten jedoch erste Hinweise, dass die Täuschung über den fehlenden Inhalt des Placebos unnötig sein könnte.

Mit der Kraft der Überzeugung

Um die Wirkung offen verabreichter Placebos wissenschaftlich zu belegen, verglich das Forschungsteam um Schmidt in einer systematischen Übersichtsarbeit 13 randomisierte klinische Studien mit insgesamt 834 Patient*innen. Die in den einzelnen Studien behandelten Diagnosen reichten von Rückenschmerzen und Reizdarmsyndrom über Depression, Fatigue und ADHS bis zu Heuschnupfen und Hitzewallungen. Den Patient*innen war offen mitgeteilt worden, dass sie ein Placebo erhalten. Zudem wurden sie über die prinzipielle Wirkung von Placebos informiert und um die regelmäßige Einnahme der Tabletten gebeten. Die Metaanalyse der Studien belegte laut Schmidt die erstaunliche Wirkung: „Wir konnten erstmals wissenschaftlich gesichert zeigen, dass auch offen verabreichte Placebos wirksam sein können.“ Sollten offen verabreichte Placebos auch im Klinikalltag Anwendung finden, könnten sie anstelle der gezielten Täuschung zusätzliche Offenheit in die Beziehung zwischen Behandler*innen und Patient*innen bringen.


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. phil. Stefan Schmidt
Leiter der Sektion Systemische Gesundheitsforschung
Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Universitätsklinikum Freiburg
Telefon: 0761 270-69280
stefan.schmidt@uniklinik-freiburg.de


Originalpublikation:

Original-Titel der Studie: Effects of open-label placebos in clinical trials: a systematic review and meta-analysis

DOI: 10.1038/s41598-021-83148-6

Link zur Studie: https://www.nature.com/articles/s41598-021-83148-6


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Studierende, Wissenschaftler, jedermann
Biologie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin, Psychologie
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch


Quelle: IDW