29.03.2019 12:36
Wie das Gehirn Erinnerungen löscht
Göttinger Forscherteam am European Neuroscience Institute Göttingen (ENI-G) deckt auf: Protein Synaptotagmin-3 schwächt Synapsen, um das Vergessen von Erinnerungen zu fördern. Veröffentlicht am 4. Januar 2019 in SCIENCE.
(umg/ENI-G/CNMPB) Erlebtes und Erinnerungen vergessen zu können, ist eher eine Fähigkeit des Gehirns als eine Fehlfunktion. Das Vergessen ermöglicht es unserem Gehirn, sich an veränderte Bedingungen anzupassen, wichtige Informationen abzuspeichern und Unwichtiges zu löschen.
Ein Göttinger Forscherteam unter der Leitung von Dr. Camin Dean am European Neuroscience Institute Göttingen (ENI-G) hat jetzt ein molekulares Detail entdeckt, das bei diesem Prozess des Vergessens im Gehirn eine wichtige Rolle spielt. Die Forscher haben herausgefunden: das Calcium-Sensor-Protein Synaptotagmin-3 (Syt3) bindet Neurotransmitter-Rezeptoren und entfernt sie aktiv aus post-synaptischen Membranen. Dieser Prozess schwächt die Stärke der synaptischen Verbindung und fördert das Vergessen. Die Studie wurde in Kooperation mit einem Forschungsteam von Prof. Dr. André Fischer vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Göttingen, Prof. Dr. Yu Tian Wang von der University of British Columbia und Dr. Henrik Martens von der Synaptic Systems GmbH in Göttingen durchgeführt. Die Forschungsergebnisse wurden am 4. Januar 2019 in der renommierten Fachzeitschrift SCIENCE veröffentlicht.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Originalpublikation
Awasthi A, Ramachandran B, Ahmed S, Benito E, Shinoda Y, Nitzan N, Heukamp A, Rannio S, Martens H, Barth J, Burk K, Wang YT, Fischer A, Dean C (2019) Synapto-tagmin-3 drives AMPA receptor endocytosis, depression of synapse strength, and forgetting. SCIENCE, 2019 Jan 4; 363(6422).
Gefördert wurde die Studie unter anderem durch ein Sofja Kovalevskaja-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung und ein Startstipendium des Europäischen Forschungsrates (ERC) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) an Dr. Dean sowie durch das Göttinger Exzellenzcluster für Mikroskopie im Nanometerbereich und Molekularphysiologie des Gehirns (CNMPB) der Universitätsmedizin Göttingen (UMG).
ERGEBNISSE IM DETAIL
Teile des Prozesses, der im Gehirn beim Vergessen abläuft, sind bereits bekannt: Die Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, sogenannte Synapsen, sind in der Lage, Erinnerungen zu speichern, indem sie die Anzahl von Neurotransmitter-Rezeptoren auf der Membran nachgeschalteter Synapsen (post-synaptische Membran) erhöhen. Unser Gehirn vergisst, wenn Neurotransmitter-Rezeptoren von der post-synaptischen Membran entfernt werden und so die synaptischen Verbindungen zwischen den Nervenzellen schwächen.
Das Forscherteam um Dr. Dean fand heraus, dass genmanipulierte Mäuse, die nicht in der Lage sind, das Protein Syt3 zu produzieren (Syt3-defizient Mäuse), zwar starke synaptische Verbindungen bilden können, indem sie die Anzahl an Neurotransmitter-Rezeptoren in der post-synaptischen Membran erhöhen. Es gelingt ihnen aber nicht, diese zu reduzieren und so die Verbindung wieder zu schwächen. Das bedeutet: Die Mäuse lernen normal, können das Erlernte aber nicht wieder vergessen.
Genau wie unbehandelte Kontrolltiere, konnten sich Mäuse, die kein Syt3 bilden, einen Zielort in einer Testumgebung gleichermaßen gut merken. Wurde dieser Zielort verändert, lernten beide Mausstämme den neuen Standort ebenfalls gleichermaßen gut kennen. Die genmanipulierten Tiere konnten jedoch den vorherigen Zielort nicht vergessen und kehrten immer wieder zu ihm zurück. Wurde der Zielort jeden Tag verschoben, suchten die Syt3-defizienten Mäuse frühere Zielorte auf, statt nach dem jeweils neu erlernten Ort zu suchen. Die Unfähigkeit zu vergessen beeinträchtigte also die Verhaltensflexibilität der Mäuse: Sie waren nicht in der Lage, zwischen einer Erinnerung und einer neuen, unmittelbar relevanten Erfahrung zu unterscheiden.
„Unsere Forschung ist eng mit der Erforschung krankhafter Prozesse bei neuropsychiatrischen und neurodegenerativen Störungen verbunden“, sagt Dr. Camin Dean, Senior-Autorin der Publikation. „Die Alzheimer-Krankheit beispielsweise ist durch anomales Entfernen von Neurotransmitter-Rezeptoren aus der Zellmembran gekennzeichnet. Wir können zeigen, dass die Verabreichung eines Peptids, das die Bindung von Syt3 an Neurotransmitter-Rezeptoren und damit deren Ausbau aus der Membran blockiert, das Vergessen bei Mäusen verhindert. Unser Kooperationspartner, Prof. Dr. Yu Tian Wang, konnte darüber hinaus belegen, dass die Zugabe die-ses Peptids in einem Mausmodell der Alzheimer-Krankheit die normale Stärke synaptischer Verbindungen wiederherstellt und somit die Gedächtnisleistung normalisieren kann.“
VERGESSEN BEI AUTISMUS UND PTBS
Verhaltensflexibilität und mangelndes Vergessen sind zudem Merkmale von Autismus-Spektrumstörungen. Lerntests bei Fruchtfliegen zeigen, dass eine Mutation von Risikogenen für Autismus das Vergessen beeinträchtigt. Und Patienten mit Autismus-Spektrumstörungen, die im Test gebeten werden, den Ort eines Reizes anzugeben, erfüllen die Aufgabe genau so gut wie Kontrollprobanden. Aber sie nennen nach einer Änderung des Reizortes weiterhin den zuvor erlernten Ort.
Obwohl die Fähigkeit zur Erinnerung oft als der wichtigste Aspekt des Gedächtnisses angesehen wird, können Defizite im Vergessen schwerwiegende Folgen haben. Ein Beispiel dafür ist die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). „Die gezielte Steuerung von Protein Syt3 könnte ein nützliches Werkzeug zur Behandlung solcher Störungen sein und speziell dazu beitragen, das abnormal starke und dauerhafte emotionale Gedächtnis im Zusammenhang mit früheren Traumata zu beseitigen”, sagt Dr. Dean.
BILDUNTERESCHRIFT:
Das Forscherteam um Dr. Camin Dean: Zu den Autoren der Studie gehören Ankit Awasthi (links), Binu Ramachandran (2. von links), Yo Shinoda (erste Reihe, 3. von links), Camin Dean (erste Reihe, 3. von rechts), Katja Burk (hintere Reihe, rechts) und Saheeb Ahmed (rechts). Quelle: ENI/ Dean.
WEITERE INFORMATIONEN:
Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität
European Neuroscience Institute Göttingen (ENI-G)
Dr. Camin Dean
Grisebachstr. 5, 37077 Göttingen
Telefon +49 (0) 551 / 39-61321
c.dean@eni-g.de
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität
European Neuroscience Institute Göttingen (ENI-G)
Dr. Camin Dean
Grisebachstr. 5, 37077 Göttingen
Telefon +49 (0) 551 / 39-61321
c.dean@eni-g.de
Originalpublikation:
Awasthi A, Ramachandran B, Ahmed S, Benito E, Shinoda Y, Nitzan N, Heukamp A, Rannio S, Martens H, Barth J, Burk K, Wang YT, Fischer A, Dean C (2019) Synapto-tagmin-3 drives AMPA receptor endocytosis, depression of synapse strength, and forgetting. SCIENCE, 2019 Jan 4; 363(6422).
DOI: 10.1126/science.aav1483
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch