Chronobiologie trifft Epilepsieforschung: Der Hippocampus hat seinen eigenen Rhythmus



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28.10.2020 10:56

Chronobiologie trifft Epilepsieforschung: Der Hippocampus hat seinen eigenen Rhythmus

Forschungsergebnisse können helfen, unser Erinnerungsvermögen sowie Epilepsieerkrankungen besser zu verstehen.

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Der Hippocampus ist ein Teil des Gehirns und unter anderem wesentlich an vielen Erinnerungs- und Lernprozessen beteiligt. Er übernimmt Inhalte aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis, wo sie gespeichert und bei Bedarf wieder abgerufen werden können. Ein internationales Forscher-Konsortium fand jetzt heraus, dass diese Prozesse nach einem eigenen tageszeitlichen Rhythmus ablaufen und die molekularen Aktivitäten im Verlauf von Tag und Nacht erheblich schwanken. Diese Ergebnisse ebnen den Weg, besser zur verstehen, wie sich unser Lern- und Erinnerungsvermögen von Stunde zu Stunde ändert. Gleichzeitig können sie helfen, Epilepsieerkrankungen wirkungsvoller zu behandeln – an Epilepsie Erkrankte leiden häufig unter Gedächtnisstörungen.

In dem breit angelegten Projekt arbeiteten französische, amerikanische, polnische und deutsche Forscherinnen und Forscher gemeinsam – von der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo) war die Arbeitsgruppe von Professor Dr. Wolfgang Löscher, Institut für Pharmakologie, Toxikologie und Pharmazie, beteiligt. Das internationale Team veröffentlichte die Studie in der renommierten Wissenschaftszeitschrift Science Advances (https://advances.sciencemag.org/content/6/41/eaat5979).

Eigener 24-Stunden-Rhythmus

Der Tag-Nacht-Zyklus reguliert die Aktivität fast aller auf der Erde lebenden Organismen. Beim Menschen steuert diese sogenannte zirkadiane Uhr viele biologische Prozesse in einem 24-Stunden-Zyklus. Dazu zählen Körpertemperatur, Schlaf, Muskelaktivität sowie Gedächtnis- und Lernfähigkeit. Fast alle Organe haben zudem einen eigenen zirkadianen Rhythmus, mit dem sie die für sie spezifischen Funktionen regeln, einschließlich Herz, Leber, Darm – und Gehirn. Im Gehirn befindet sich im suprachiasmatischen Kern die zirkadiane Hauptuhr des Körpers und gibt den 24-Stunden-Rhythmus vor. „Bisher dachten wir, dass im Gehirn nur der suprachiasmatische Kern als Taktgeber fungiert“, berichtet Löscher. Nun fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber heraus, dass auch im Hippocampus entsprechende genetische und molekulare Prozesse aktiv sind. „Diese Erkenntnisse geben uns erste Hinweise, um zu verstehen, wie und warum sich unsere geistigen Fähigkeiten im Verlauf der 24 Stunden eines Tages ändern und warum es zum Beispiel nur nachts zur Konsolidierung von Gedächtnisinhalten kommt“, erklärt er.

Bedeutung für die Epilepsieforschung

Ein zweiter Aspekt dieser Studie betrifft die Temporallappenepilepsie – die häufigste Epilepsieform bei Erwachsenen. Bei 80 Prozent der Patienten werden Anfälle zirkadian reguliert. Das heißt, dass sie zu einer bestimmten Tageszeit und nicht zufällig bei einem Patienten auftreten. Es ist bekannt, dass der Hippocampus an dieser Form der Epilepsie beteiligt ist, und betroffene Patienten häufig Gedächtnis- und Lerndefizite haben, die vom Hippocampus abhängen. Die Forscherinnen und Forscher zeigten in ihrer Studie, dass sich die Schwankungen der molekularen Aktivitäten im Hippocampus bei erkrankten und gesunden Tieren stark unterscheiden: „Ein epileptischer Hippocampus funktioniert anders als ein gesunder Hippocampus“, sagt Löscher.

Dieses Ergebnis könnten helfen, zu verstehen, warum Anfälle zu einer bestimmten Tageszeit häufiger auftreten. „Eventuell helfen sie, die Anfälle medikamentös besser zu kontrollieren,“ so Löscher. „Außerdem ebnen die Untersuchungen den Weg für ein besseres Verständnis kognitiver Defizite und neuer therapeutischer Ansätze bei Patienten.“

Die Originalpublikation

The circadian dynamics of the hippocampal transcriptome and proteome is altered in experimental temporal lobe epilepsy
J. A. Müller, S. Schoch, A. Becker, W. Löscher, M. Guye, P. Sassone-Corsi, K. Lukasiuk1, P. Baldi, C. Bernard
Science Advances: https://advances.sciencemag.org/content/6/41/eaat5979


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Professor Dr. Wolfgang Löscher
Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover
Institut für Pharmakologie, Toxikologie und Pharmazie
Tel.: +49 511 953-8729
wolfgang.loescher@tiho-hannover.de


Originalpublikation:

The circadian dynamics of the hippocampal transcriptome and proteome is altered in experimental temporal lobe epilepsy
J. A. Müller, S. Schoch, A. Becker, W. Löscher, M. Guye, P. Sassone-Corsi, K. Lukasiuk1, P. Baldi, C. Bernard
Science Advances: https://advances.sciencemag.org/content/6/41/eaat5979


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Medizin, Tier / Land / Forst
überregional
Forschungsergebnisse, Kooperationen
Deutsch


Quelle: IDW