31.01.2022 09:39
Netzwerk-Regeneration nach Schlaganfall: Entscheidender Baustein identifiziert
Das Zellgerüstprotein Cobl spielt eine zentrale Rolle für die Neuvernetzung von Nervenzellen nach einem Schlaganfall. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forschungsteam am Universitätsklinikum Jena, das im Fachjournal PLOS Biology einen grundlegenden molekularen Mechanismus beschreibt, der kurz nach dem Infarkt und benachbart zur betroffenen Hirnregion eine effektive Umgestaltung neuronaler Netzwerke ermöglicht.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Schlaganfälle sind eine Haupttodesursache und auch die Hauptursache für Behinderungen im Erwachsenenalter. Etwa 40% der Überlebenden leiden drei Monate danach noch immer an schweren bis mittelschweren Beeinträchtigungen, weil die Nervenzellen und die Netzwerkverbindungen in der vom Infarkt betroffenen Hirnregion unwiederbringlich verloren sind. Je nach Schwere des Infarkts setzen jedoch Reparaturmechanismen ein, die Gehirnfunktionen in Teilen oder sogar vollständig wiederherstellen können. Dies erfordert allerdings weitreichende Umgestaltungen neuronaler Netzwerke, die bisher nicht gut verstanden sind.
Am Universitätsklinikum Jena erforschen die Arbeitsgruppen um Prof. Dr. Britta Qualmann und PD Dr. Michael Kessels seit langem, wie die Entwicklung und Vernetzung von Nervenzellen im sich entwickelnden Gehirn abläuft. Mit ihren Ergebnissen konnten die Teams am Institut für Biochemie I zum Verständnis der zellbiologischen Gestaltbildungsprozesse in der frühen neuronalen Entwicklung beitragen. „Es lag also nahe, sich zu fragen, ob Nervenzellen im voll entwickelten, erwachsenen Gehirn nach einem Schlaganfall irgendwie Fähigkeiten wieder erlangen könnten, die wir von Entwicklungsprozessen im frühesten Kindesalter kennen, und ob diese dann eventuell von ähnlichen Komponenten angetrieben werden“, umreißt Michael Kessels eine der Ausgangshypothesen des aktuellen Projektes, in welchem das Team mit einer Arbeitsgruppe der Klinik für Neurologie zusammenarbeitete. „Die Signale, die solche Prozesse auslösen, müssten natürlich speziell mit dem Schlaganfallgeschehen verbunden sein. Hier drängten sich insbesondere die extrem hohen Kalzium-Signale nach einem Schlaganfall auf“, so Britta Qualmann weiter.
Besonders interessierte sich die Forschungsgruppe für das Protein Cobl, das sie in früheren Arbeiten als wichtige Komponente im Zellskelett von Nervenzellen identifiziert hatte. Cobl treibt die Ausbildung und die Verzweigung von Dendriten an, den für die Signalweitergabe wichtigen Zellfortsätzen der Neuronen, und wird durch sehr hohe Kalzium-Signale abgebaut. In Gehirnen von Mäusen, bei denen durch den kurzzeitigen Verschluss der Hirnarterie unter Betäubung künstlich ein Schlaganfall ausgelöst wurde, fiel das Cobl-Niveau tatsächlich abrupt ab. Interessanterweise glich jedoch eine vermehrte Neusynthese den Cobl-Verlust schon nach einem Tag wieder effizient aus.
Wofür wird Cobl nach einem Schlaganfall so dringend gebraucht? Das zeigten umfassende Analysen der Nervenzellgestalt zu verschiedenen Zeitpunkten nach Schlaganfall – sowohl in normalen Mäusen als auch in Tieren, die durch eine Genveränderung kein Cobl herstellen können. „Auch Nervenzellen im Umfeld der eigentlichen Infarktregion büßten nach einem Schlaganfall nach sechs Stunden einen Großteil ihrer Verzweigungen ein“, beschreibt Dr. Yuanyuan Ji die zunächst auftretenden, gravierenden Schlaganfallfolgen. Die Nachwuchswissenschaftlerin arbeitete mit Förderung des Interdisziplinären Zentrums für Klinische Forschung im Rahmen des Graduiertenkollegs im Projekt. „Faszinierenderweise schafften es die Neuronen aber an den Folgetagen, ihre Dendriten wieder neu auswachsen zu lassen“, so Yuanyuan Ji weiter. Offensichtlich „suchten“ Nervenzellen nahe der Infarktregion durch verstärktes Wachstum ihres weitverzweigten Dendritenbaumes in einem kritischen Zeitfenster ein bis vier Tage nach dem Infarkt intensiv nach weiteren Zellen, mit denen sie sich neu vernetzen können. Bei Mäusen, die durch Manipulation des entsprechenden Gens kein Cobl haben, konnte diese Zellantwort hingegen nicht beobachtet werden. Der Defekt in den Gehirnen von diesen Mäusen war dramatisch. Ohne Cobl verblieben die Nervenzellen selbst am vierten und auch noch am siebten Tag auf dem durch den Schlaganfall stark beeinträchtigten Ausgangsniveau.
Das Zellgerüstprotein Cobl ist also absolut notwendig für Neuverzweigungen von Nervenzellausläufern, damit sich im durch Schlaganfall geschädigten Gehirn neue neuronale Netzwerke bilden und verlorene Funktionen übernehmen können. „Diese Entdeckung stärkt unsere These, dass bei Umgestaltungen der Zellgestalt starke Kraftausübungen von Zytoskelett-Strukturen in den Nervenzellen erforderlich sind. Cobl fördert die Bildung genau solcher Strukturen“, so Britta Qualmann. Zu den zukünftigen Forschungsanstrengungen des Institutes und den sich für Schlaganfallpatienten daraus ergebenden Perspektiven ergänzt sie: „Das heißt jetzt natürlich, dass wir dringend noch mehr über die Funktion und vor allem über die gezielte Schaltbarkeit von Cobl herausfinden müssen.“
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. Britta Qualmann, Priv. Doz. Dr. Michael Kessels
Institut für Biochemie I, Universitätsklinikum Jena / Friedrich-Schiller-Universität Jena
Tel. 03641/ 9 396 310
E-Mail: Britta.Qualmann@med.uni-jena.de, Michael.Kessels@med.uni-jena.de
Originalpublikation:
Ji, Y et al. Poststroke dendritic arbor regrowth requires the actin nucleator Cobl. PLoS Biol. 2021 Dec 13;19(12):e3001399. doi: 10.1371/journal.pbio.3001399. eCollection 2021 Dec.
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
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